Vorrede

22. Dezember 2008

(Neufassung Juli 2012)

Hüte dich, bleib wach und munter! Joseph von Eichendorff

Mit den auf diesen Seiten in unregelmäßiger Folge erscheinenden Texten soll etwas weitergeführt werden, das ein Freund des Verfassers, der 2006 verstorbene Harald von Rappard, auf seiner Homepage unter dem Titel „Gegen den Strich“ (http://haraldvonrappard.de) begonnen hat.  Wie der Titel schon andeutete, lag der Antrieb zu den unter ihm zu findenden Wortmeldungen nicht in der Affirmation. Auch der nachfolgende Blog „Salon Ockham“ verfolgt eine kritische Intention. Den in ihm veröffentlichten Beiträgen liegt das Bestreben zugrunde, sich einem verhängnisvollen Trend, einer verheerenden Tendenz entgegenzustellen. Die Rede ist von Versuchen, eine Art gegenaufklärerisches „Roll-back“ einzuleiten. Auf die irrationalistische Tradition zurückblickend sprach Georg Lukács von der „Zerstörung der Vernunft“. Seither ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Wieder muss die Art und Weise, in der sich das Glaubensbedürfnis mancher Zeitgenossen Bahn zu brechen beginnt, Besorgnis hervorrufen, wenn man der Fähigkeit zu zweifeln mehr vertraut als dem Glauben und es für wahrscheinlich hält, dass sie der Humanität im Laufe der Geschichte bessere Dienste erwiesen hat. Wer felsenfest glaubt, zögert nicht, den Scheiterhaufen anzuzünden; wer zweifelt, wird die Fackel nur in die Hand nehmen, um damit dunkle Winkel auszuleuchten. Die Tendenzen, auf welche die Textproduktion in diesem Blog reagiert, lassen sich mit den Worten Hegels wie folgt beschreiben:

„Indem jener (der Vertreter einer sentimentalen Erbauungsphilosophie, R. S.) sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muss erklären, dass er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewusstsein[e]. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831): Phänomenologie des Geistes, Hamburg, o. J., S. 78.

Hegel rechnet hier mit dem romantischen Zeitgeist ab. Man muss die Romantik nicht – wie es beispielsweise Peter Hacks tut – pauschal verdammen, wenn man dieser Kritik mit Blick auf heute um sich greifende Moden zustimmt. Die irrationalistischen Geistesrichtungen, von welchen die dem Denken Entwöhnten sich allenthalben umnebeln und, auf solche Art orientierungslos gemacht, einnorden lassen, sind äußerst verdächtigen Ursprungs. Der Verfasser will ihnen an dieser Stelle auf zweierlei Weise zu Leibe rücken: Auf angeblichen Offenbarungen oder Erleuchtungen beruhende Thesen oder Überzeugungssysteme sollen nicht nur hinsichtlich ihrer logischen Konsistenz, ihrer inneren Stimmigkeit überprüft werden, sondern es sollen auch die Traditionslinien zurückverfolgt werden, denen sie ganz oder in Bruchstücken entstammen. Die Darstellungsform muss sich dabei nicht unbedingt an die Schrittfolge der Untersuchung halten; sie kann sich auch ästhetischen Maßstäben fügen.

Man kann einwenden, dass man jemanden, mit dem es so weit gekommen ist wie mit den Objekten der geplanten Analysen, mit vernünftiger Kritik überhaupt nicht mehr erreicht. Aber wer sich in fragwürdige Bewegungen eingereiht hat, kann nach seiner intellektuellen Kapitulation nicht auf Proselytenmacherei verzichten. Nur ein mit anderen geteilter Glaube kann die Illusion vermitteln, unbezweifelbar zu sein. Nur wer einer ständig wachsenden Masse anzugehören glaubt, kann die unvermeidlichen Zweifel niederhalten. Bei seinen Versuchen, zum Wachstum der Masse beizutragen, ist er auf einen Restbestand von Begründungen angewiesen. Hier setzt der bewährte „Voraussetzungsminimalismus“ an, der unter dem Namen „Ockhams Rasiermesser“ bekannt ist. Die Objekte einer mit Hilfe dieses Bestecks formulierten Kritik reduzieren zwar in sträflicher Weise den Umfang rechtfertigender Aussagen. Ihr unausgesprochener Aufwand an ungeprüften bzw. nicht überprüfbaren Voraussetzungen ist diesem jedoch umgekehrt proportional. Wer den Grundsatz „pluritas non est ponenda sine necessitate“ missachtet, wird es schwer haben, unter der Vielzahl der wüst zusammenphantasierten Behauptungen noch so etwas wie logisch haltbare Beziehungen zu sichern.

Das Operieren mit „Ockham’s razor“ ist ein Test auf intellektuelle Redlichkeit. Sie ist ein Anspruch, der sich gleichermaßen an den Gegenstand der Kritik richtet wie an ihr Subjekt. Ihre Artikulation soll einer Moral des sprachlichen Ausdrucks dienen, einer Disziplin des vernünftigen Redens. Inbegriffen ist dabei die Rechenschaft über pragmatische Implikationen. Im Vordergrund steht zunächst die Auseinandersetzung mit Begriffen, die im unreflektierten Sprachgebrauch heruntergekommen sind oder deren mangelnde Satisfaktionsfähigkeit immer weniger bemerkt wird.

Verständlicherweise kann es bei einem bloß sprachkritischen Versuch, etwas zur Weiterführung einer skeptischen Tradition beizutragen, nicht bleiben. Wer Worte befreien oder die Sprechenden von ihnen befreien will, muss sich auch der Werkzeuge der Befreiung vergewissern. Intellektuelle Befreiung hebt nicht mit Gewissheit an, sondern mit Ungewissheit, und sie muss im Fortgang Unsicherheit zulassen. Der in der genannten skeptischen Tradition kultivierte Zweifel geht jedoch nicht weit genug, solange er sich lediglich an einem Denken abarbeitet, das mitsamt seinem Ausdruck durch die Irrationalität der Umstände Schaden genommen hat. An der Auseinandersetzung mit diesen Umständen kommt man nicht vorbei. Es war Karl Marx, der den folgenden Satz zu seiner Devise erklärte:

„De omnibus dubitandum.“

Sein Zweifel galt nicht nur Theorien, sondern auch dem, was sich in ihnen spiegelte. Gerade die Radikalität dieses Zweifels, der sich beispielsweise von der konservativeren Skepsis eines Montaigne unterscheidet, lässt es für manche unangemessen erscheinen, Marx in eine skeptische Tradition einzureihen. Für den Marx, der bestritt Marxist zu sein, dürfte das aber nicht allzu schwer fallen. Kein Begriff hat für sein Werk eine so zentrale Bedeutung wie der Begriff der Kritik. Sie richtete sich gegen herrschende Meinungen wie gegen herrschende Verhältnisse, geistige wie materielle Gegebenheiten, die sich durch nichts legitimierten als durch das, was sie ihrem Wesen nach waren: Ausdruck oder Formen von Herrschaft. Es handelte sich um nichts anderes als die Fortschreibung des Programms der Aufklärung. Ihr Instrument, die Kritik, ist ohne eine skeptische Grundhaltung nicht denkbar. Sie besteht in der Treue zu dem Prinzip, dass es die Behauptungen und angeblichen Glaubenswahrheiten sind, die der Rechtfertigung bedürfen, und nicht etwa der Zweifel an ihnen: Der Glaubende ist in der Beweispflicht, nicht der Zweifler. Wer seine nur aus Verlegenheit noch so zu bezeichnenden Überzeugungen nach dem bei Hegel beschriebenen Muster begründet, sollte damit nicht davonkommen. „Ockham’s razor“ soll verheimlichte unhaltbare Voraussetzungen freilegen, soll sie bis in ihre absurden Schlussfolgerungen hinein verfolgen und so der Kritik zugänglich machen.

Auch ein weihrauchdurchwaberter „cordon sanitaire“ kann hier keine Grenze markieren. Das Risiko, sich den mittlerweile gängigen Vorwurf eines „Fundamentalismus der Aufklärung“ zuzuziehen, ist zu vernachlässigen. Dieser Kampfbegriff mag ein Widerspruch in sich sein. Wichtiger ist es aber, die Immunisierungsstrategie zu durchschauen, die sich hinter ihm verbirgt, Den Tabus, die mit Hilfe einer Verteufelung aufklärerischen Denkens aufgestellt werden sollen, wird die Anerkennung verweigert.

Ernst zu nehmen ist hingegen Wittgensteins die Marxsche Devise relativierender Einwand, dass ein Zweifel an allem „nicht einmal ein Zweifel“ ist. Daran ist richtig, dass jeder Zweifel eine Art dogmatischen Kern im Sinne eines archimedischen Punkts benötigt. Es kann keine Kritik geben, welche die eigenen Maßstäbe negiert, und es ist kein qualifizierter Zweifel möglich, der sich aller Gewissheitskriterien entledigt hat. Die Überzeugung, dass Zweifel eine gute Sache ist, dürfte daher nicht genügen. Aber der Autor dieser Zeilen ist sich getreu dem Ockhamschen Sparsamkeitsprinzip wenigstens eines Grundsatzes sicher: Wenn es schon unvermeidlich ist, das eine oder andere zu glauben, sollte es möglichst wenig sein. Was dieses Wenige für ihn ist, wird sich, sofern es sich nicht schon im anfänglichen Hegel-Zitat angedeutet hat, in den an diesem Ort veröffentlichten Essays allmählich zeigen müssen. Das Wortspiel im Namen „Salon Ockham“ lässt die etwas ironische Vorstellung eines rasiermesserschwingenden Barbiers aufsteigen. Andererseits erinnert der Name auch an den Salon als einen Ort des philosophischen Gesprächs. Wenn es möglich sein sollte, in einem solchen in Kommentaren ausgetragenen Gespräch jenem archimedischen Punkt näher zu kommen, hätte der Salon seinen Zweck erfüllt. Im Interesse dieses Ziels sind Debattenbeiträge willkommen.

Zum Repertoire dieser Seite gehören seit 2014 einige wenige autobiographische Erzählungen. Sie passen vielleicht nicht ganz zu der Mehrheit der übrigen Texte. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie zu denken geben.

Link: Website von Christiane Sturm 

Rudolf Selbach

Der Barbier, der alle Männer rasiert, die sich nicht selbst rasieren, bleibt ein Rätsel. Dieses Foto ist ganz offensichtlich keine Lösung.

Zeitgespenster

26. Mai 2024
Für Markus Melchers

Nach Helmuth Plessner wird die Fähigkeit, „mit anderen Augen sehen (zu) lernen (…) aktiviert durch ein echtes Erlebnis, d.h. Schmerz, (der) die Vertrautheit zerstört, so dass es uns wie Schuppen von den Augen fällt.“ „ (…) den Mut zur Anschauung einer Welt“ so heißt es weiter in dem Aufsatz „Mit anderen Augen“, „findet nur eine bis in den Grund erschütterte und an sich verzweifelnde Zeit. (…) Nur der bittere Trank der Enttäuschung sensibilisiert. Der Schmerz ist das Auge des Geistes.“
Die Stelle kann einen dazu veranlassen, die eigenen Erinnerungen nach verunsichernden Erlebnissen zu durchsuchen, die geeignet waren, Veränderungen der Sicht auf die Welt anzustoßen. Wollte man aber stattdessen die Erinnerungsarbeit der Masse der Angehörigen der Kriegsgeneration an dem messen, was Plessner kaum verhohlen als eine Art Maßstab formuliert hat, so würde damit das Bild eines Nachkriegsdeutschland heraufbeschworen, in dem das „Auge des Geistes“ hinter einer Schlafmaske verschwindet.
Über die Frage, was die Achtundsechziger dazu brachte, sich (und weniger erfolgreich anderen) die Schlafmaske vom Gesicht zu reißen, ist viel geschrieben worden. Wichtig war ohne Zweifel, was sie gelesen hatten, nämlich Texte von Emigranten, also von Männern und Frauen, die wie Plessner selbst erleben mussten, „der Zone der Vertrautheit fremd geworden (zu) sein.“ Doch anders als die­jenigen, die keine andere Wahl hatten, als die Dinge anders als wie zuvor gewohnt zu sehen, agier­ten die Achtundsechziger aus der Komfortzone heraus – auch wenn später manche sich selbst aus aus der Komfortzone hinausagierten.
Zu denen gehören zu wollen, vor denen einen die eigenen Eltern immer gewarnt hatten, hatte zu­nächst mehr spielerische Züge, als man selbst wahrhaben wollte. Aber die Exponenten der Verhält­nisse, mit denen man sich anlegte, verstanden gerade in dem Maße keinen Spaß, in dem die gesell­schaftlich Maßgebenden sich als unfähig erwiesen, eben jene Verhältnisse „mit anderen Augen“ zu sehen.
Linke, die sich damals als dagegen widerständig begriffen, betrachteten diese Verhältnisse freilich durch eine geliehene Brille. Die Brille der Emigranten vom Schlage Plessners oder der Vertreter der Kritischen Theorie hatte man noch dazu schnell vertauscht. Der unerschütterliche Glaube an einen unaufhaltsamen Fortschritt trat an die Stelle der radikalen Infragestellung alles Vorgefundenen, und DDR-Ideologen brachen sich Verzierungen ab, um zu beweisen, dass der Marx des Wahlspruchs „de omnibus dubitandum“ nicht der wahre Marx sei.
Mochte Marx von den Achtundsechzigern auch berechtigterweise als eine ebenso grundstürzende wie grundlegende Entdeckung betrachtet werden – der Marxismus, von dem er selbst erklärte, ihm nicht anzugehören, erreichte sie schließlich nur noch in Form kommunistischer Orthodoxie, entweder sowjetischer oder maoistischer Bauart. Man wollte zu den Siegern der Geschichte gehören und entwickelte, um einer ideologischen Heimatlosigkeit zu entgehen, ein fatales Anlehnungsbedürfnis.
Aber plötzlich war da keine Lehne mehr, und es fehlte auch eine Krücke, auf die man sich hätte stützen können. Und weit und breit kein „Geländer am Strom“.
Man betrachtete nun entweder kopfschüttelnd das diesem Katzenjammer folgende chaotische Spiel eines postmodernen „anything goes“ oder man fühlte sich bemüßigt dabei mitzumachen, weil man nicht den Anschluss an die intellektuelle Mode einer neuen Generation verpassen wollte. Mochte auch das Dogma des Konstruktivismus, dem zufolge es in Wahrheit keine Wirklichkeit gibt, mit der kalauernden Frage: „Und das ist wirklich wahr?“ noch nicht ganz auszuhebeln sein, der Phantomschmerz der für verloren erklärten Wirklichkeit – einer Wirklichkeit, zu der man doch privilegierten Zugang beansprucht hatte – wollte einfach nicht verschwinden.
Eine Wiederbelebung der einst selbst zum Dogma erklärten Widerspiegelungstheorie kam andererseits nach der neurowissenschaftlichen Durchleuchtung des Erkenntnisapparats nicht mehr in Frage. Aber befriedigend kann man es wahrhaftig nicht finden, dass das menschliche Ringen um Erkenntnis darauf reduziert wird, dass irgendwelche Konstruktionen um Viabilität konkurrieren. Denn von einer solchen Absage an jeden Wahrheitsanspruch ist nur noch ein Schritt zu der Rede von Narrativen, unverbindlichen Rechtfertigungserzählungen also, die sich bei Licht betrachtet von Werbespots nicht mehr allzusehr unterscheiden und ohne Umstände zu fake news erklärt werden können, wenn sie einem nicht in den Kram passen. Wenn etwas nur ein Narrativ ist, kann locker mit „alternativen Fakten“ aufgewartet werden. Das „Ende der großen Erzählungen“, mit dem die Lücken und Defizi­te eines altehrwürdigen Universalismus zutage kamen, hatte die unangenehme Nebenwirkung, dass nun ein überaus hässlicher, zuweilen identitär kontaminierter Relativismus Platz griff.
Wirklichkeit oder gar Wahrheit sind in so einer Atmosphäre Begriffe, die sich auf der Schwarzen Liste wiederfinden. Wer an ihnen festhält, ist lästig und, schlimmer, er ist nicht up to date. Sofern die genannten universalistischen Ideale sich noch einer Tradition verdanken, die sich durch die Jahr­hunderte zurückverfolgen lässt, und nicht nur argumentative Manövriermasse im Interessenwider­streit sind, laufen sie Gefahr, durch den vorherrschenden Relativismus untergepflügt zu werden.
Das kündigte sich schon vor Jahrzehnten an. Dazu eine private Anekdote. Ein mir zuvor fast be­freundeter und nun in Poona zu Bhagvan bekehrter ehemaliger Kommilitone, der nach seiner Rück­kehr von seinen Erlebnissen berichtete, tönte begeistert, man könne in Indien prima leben. Als ich einwarf: „Ja, wenn man nicht zufällig Inder ist“, bekam ich den verärgerten Ausruf zu hören: „Ach hör mir doch auf mit diesem Sozialscheiß!“ In der nun folgenden Auseinandersetzung ließ ich mich dazu hinreißen, aus der letzten Strophe von Brechts Einheitsfrontlied vier Zeilen zu zitieren, die mir gewissermaßen heilig sind, weil sie das repräsentieren, wovon ich glaube, dass daran jederzeit un­bedingt festzuhalten ist. Sie lauten:

„Und weil der Mensch ein Mensch ist,
drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern.
Er will unter sich keinen Sklaven sehn
und über sich keinen Herrn.“

Selbst dieser elementare Grundsatz war in unserem Gespräch nicht mehr konsensfähig. Am Ende kam nur noch die Frage: „Woher weiß der das?“
Hier wurde ohne Not zweierlei für irrelevant erklärt: die soziale Wirklichkeit und die Maßstäbe, an denen sie zu messen wäre. Etwas anderes als das subjektive Wohlbefinden kann so nicht mehr von Interesse sein. Man hat es offensichtlich mit einem schweren Fall von Narzissmus zu tun. Es gerät in Vergessenheit, dass ohne jene Voraussetzungen Dialogfähigkeit nicht bestehen kann. Die Schwe­re des Falles besteht darin, dass die narzisstische Indolenz gegen Erfahrungen abschirmt, die geeig­net wären, den subjektiv so Glücklichen zu verstören und damit für andere zu öffnen. Die Welt da draußen ist ihm so gleichgültig, als wäre sie nicht vorhanden.
In seinem Lyrikband „Die Geschichte der Wolken“ hat Hans Magnus Enzensberger an die „Welt da draußen“ erinnert, die es ja nach Ansicht des differenzlose Begriffe verschmähenden „neuen Realis­ten“ Markus Gabriel bekanntlich nicht gibt (wenn auch anders dann irgendwie doch). Im Gedicht wird der gängigen Neigung zur bedingungslosen Ausstellung von Blankoschecks für alles Kontrain­tuitive, der Bereitschaft zur Leugnung der Widerständigkeit der Welt eine ebenso entschiedene wie gelassene Absage erteilt:

Bischof Berkeley ins Stammbuch
Lautlos versichert die Welt mir,
dass sie da ist, geduldig,
augenblicklich, immer von neuem:
der Staub, in der Hitze flimmernd,
auf dem Daumen der Hammer,
mit ihren Krallen die Katze,
auch jene fliehende Wolke dort,
die der Wirklichkeit
so leicht keiner nachmacht.

Sie fragt nicht nach euch,
liebe Mystiker, äußert sich nicht,
wenn ihr sie wieder einmal
für Augentrug haltet.
„Konstruktivismus“,
Philosophengemurmel,
physikalische Träumereien,
„ein paar Quarks und sonst nichts“,
lässt sie auf sich beruhen.

Sie hört nicht auf euch, die Welt
mit ihren Katzenaugen.
Sie lässt euch reden, geduldig,
so lang, bis sie zuschlägt
mit ihren Krallen, spielt
noch ein Weilchen mit euch,
vergisst euch, und bleibt.

Hier erinnert die Welt mittels des Hammers auf dem Daumen und der Krallen der Katze an ihre Existenz, so als bedeute die Welt mit anderen Augen zu sehen, sie plötzlich überhaupt zu sehen. Un­angenehme taktile Erfahrungen stoßen uns mit der Nase darauf, dass da nicht etwa nichts ist. Was da ist, geht uns zumindest insofern etwas an, als es uns zum Gang zum Verbandskasten veranlasst. Aber es gibt ja auch genug Beispiele tieferer Erlebnisse, die mehr von uns verlangen als eine solche Handlung der Selbstsorge. Man muss dabei nicht unbedingt an die kürzlich ausgerufene Zeitenwende denken, auch wenn diese manchem eine – freilich schmerzhafte – Chance eröffnet, das von den Lebenslügen der Vergangenheit in eine Schieflage Gebrachte wieder gerade zu rücken. Aber es steht ein noch größerer Elefant im Raum.
In seinem am 5.12.2022 im „Perlentaucher“ veröffentlichten Essay „Rückkehr des Ernstfalls. Ein evidenzbasierter Vorgriff auf die Zukunft“ nennt Daniele Dell’Agli die Sache beim Namen: „Der Klimawandel mit all seinen Folgen lässt uns wieder auf den harten Boden der Realität aufprallen. Das Leitmotiv kultureller Selbstverständigung lautet nun nicht mehr ‚Wie wirklich ist die Wirklich­keit?‘ sondern: wieviel Infragestellung von Wirklichkeit können sich die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts noch leisten, ohne ihr Überleben zu gefährden? Dabei wird die Rückkehr des Ernst­falls sich nicht in einer Re-Essentialisierung sinnverwaister philosophischer Disziplinen erschöpfen. In der von allen Lebewesen geteilten Atmosphäre gibt es nämlich nur Eine gemeinsame Welt.“