Die Linke hat in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus ihre Prinzipien aufgegeben.
Thierry Chervel
I
Seit längerem wird in der öffentlichen Debatte immer wieder ein Aphorismus aus Goethes „Maximen und Reflexionen“ zitiert:
Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.
Grammatisch handelt es sich um eine Abfolge von drei Sätzen. Sie lassen ein gewisses Bemühen um Folgerichtigkeit erkennen. Dass schon der erste Satz die conclusio enthält, ist eine der pointierten Darstellung geschuldete, durchaus übliche Umkehrung der Schrittfolge. Er wird durch den sich nach dem Semikolon anschließenden Nachsatz erläutert. Der letzte Satz enthält eine unvollständige, aber für sich genommen einleuchtende Begründung. Es lohnt sich aber, die Einheit des in den drei Sätzen festgehaltenen Gedankens noch weiter aufzulösen und die Sätze im Einzelnen hinsichtlich ihres Wahrheitswertes zu betrachten.
Die Formulierung „sollte eigentlich“ verbindet ein Modalverb mit einem Modalität andeutenden Adverb. Dadurch fällt die Aussage des ersten Satzes recht vage aus. Es ist infolgedessen schwer, dem ersten Satz zu widersprechen. Man sollte es eigentlich auch nicht. Der Dreiwörtersatz, der den Gedanken abschließt, ist zweifellos wahr; die Duldung, von der er spricht, setzt eine Art Rangordnung voraus und damit zugleich den Geduldeten herab. Aber bezüglich des mittleren Satzes ist ein deutliches „Hier irrt Goethe“ angebracht. Mit Lessing ist festzuhalten: „Kein Mensch muss müssen.“ Die Notwendigkeit von Anerkennung, das „Muss“ ist nämlich bei Goethe bloße Behauptung, denn mit einer Begründung, die sich von Benimmregeln ableitet, lässt sich nicht viel anfangen. Man müsste sich schon gründlicher darauf einlassen, was Anerkennung bedeutet.
Nach dem Modell der Dialektik von Herr und Knecht ist Anerkennung ein Streitobjekt. Ein für die Kontrahenten annehmbares Ende des Kampfes um Anerkennung setzt voraus, dass sie einander vertrauen können und nicht vom jeweils anderen im Falle der Niederlage in einem Konflikt eine demütigende Behandlung erwarten müssen. Anerkennung erweist oder verweigert man also stets nur auf eigene Gefahr. Ausmaß und Vertretbarkeit des einen wie des anderen Risikos hängen vom Wesen dessen ab, wofür Anerkennung beansprucht wird. Wenn Anerkennung in jedem Falle, also unbedingt, im Sinne eines „Muss“ geboten ist, gibt es keine Kriterien, nach denen man beurteilen könnte, wer oder was Anerkennung verdient. Im Prinzip könnte man nicht einmal durch und durch repressiven Herrschaftsverhältnissen das Recht bestreiten anerkannt zu werden. Angesichts der Goetheschen Apologie despotischer Herrschaft in den Anmerkungen zum „West-östlichen Divan“ scheint das „Muss“ in jenem viel zitierten Satz nicht verwunderlich.
Wer sich damit nicht zufrieden geben möchte, muss sich auf Maßstäbe besinnen. Er hat dann Grund, sich der Risiken zu erinnern, die sich mit dem Vertrauensvorschuss verbinden, den man dem Anerkannten notwendigerweise entgegen bringt: Wer vertraut, kann enttäuscht werden. Eine Idee, deren Geltung, oder eine Person oder Gruppe, deren Gesinnungen man anerkennt, deren Würde man glaubt respektieren zu müssen, kann sich nachträglich für den Anerkennenden als bedrohlich herausstellen. Auf der anderen Seite kann die Verweigerung von Anerkennung Verzweiflungstaten provozieren und auf diese Weise verheerende Folgen haben.
Ähnliches gilt auch für Toleranz. Doch sie ist nicht vorbehaltlos, und der bloß Tolerierende geht ein geringeres Risiko ein als der bedingungslos Anerkennende; Duldung lässt sich leichter rückgängig machen als ein fraglos und ohne jede Einschränkung bestehendes Daseins- und Entfaltungsrecht, das allgemeine Respektierung einfordert. Die Tendenz zu Verfolgung und Repression findet darum in einem Toleranzgebot eine niedrigere Schranke als in einer Haltung, die als Anerkennung bereits verinnerlicht wurde. Darum gilt: Toleranz und Anerkennung sind Leistungen von Individuen oder Gruppen, die anderen Individuen oder Gruppen vertrauen. Durch die Abstufung der entsprechenden Formen des Vertrauens kann man die Gefahr der Enttäuschung kontrollieren. Wer nach diesem Muster verfährt, muss aber auch ein hohes Maß an Selbstkontrolle aufbringen.
Dass Toleranz und Anerkennung gängige Übung sind, ist nämlich grundsätzlich unwahrscheinlicher als ihr Fehlen. Wo mangels Toleranz oder Anerkennung die Forderung nach ihnen erhoben wird, ist in der Regel ein Machtgefälle gegeben; Intoleranz muss man sich leisten können. Basis jeder den Diskurs verweigernden Brüskierung ist eine reale oder angenommene Machtposition. Zumindest über die Möglichkeit einer Verweigerung von Anerkennung kann man noch verfügen, solange sie nicht durch massiven Druck erzwungen wird. Autorität als Moment einer an sich schon problematischen komplementären Kommunikation kann jedoch nur ohne Zwang ihrer selbst sicher sein, denn die Wertlosigkeit einer gewaltsam durchgesetzten Anerkennung ist nicht erst seit Hegel evident. Eine Kommunikation, die auf gegenseitiger Anerkennung beruht, nennt die Kommunikationstheorie symmetrisch. Sie stellt einen gesellschaftlichen Idealzustand dar.
Wo gegenseitige Anerkennung besteht, stellt sich dann die Frage nach der Toleranz nicht mehr. Das Auftreten „Symmetrischer Intoleranz“ wäre der Sonderfall einer Regelverletzung, in der die aggressiven Konfliktpartner abwechselnd die Maske des Überlegenen aufsetzen. Dergleichen spielt sich vor dem Hintergrund gruppeninterner Gewaltverhältnisse ab, die sich durch die Projektion von Feindbildern stabilisieren lassen. Die rhetorisch proklamierte „Unerträglichkeit“ des Feindes impliziert für die Gruppenmitglieder das Verbot, ihm zu gleichen oder sich ihm wohlwollend zu nähern. In diesen Machtspielen zeigt strukturelle Gewalt ihr Gesicht. Sie wird als Intoleranz manifest.
Seit Hobbes wird vom Staat erwartet, einen Krieg aller gegen alle zu beenden oder zu verhindern. Als mögliches Subjekt einer gewaltsamen Toleranzerzwingung muss der Staat aber vor der Aufgabe versagen, die Bedingungen für Anerkennung herzustellen, denn er kann nicht alle Konflikte lösen, die durch Toleranz lediglich stillgestellt werden. Eine Instanz, die vermöge ihres Gewaltmonopols Schutz-, Freiheits- und Teilhaberechte gewähren oder verweigern kann, wird außerdem trotz allen Bemühens um Überparteilichkeit den Vorwurf der einseitigen Förderung oder gar Ausübung von Intoleranz nie ganz vermeiden können.
Aber der Rechtsstaat lässt den Schatten des Hobbesschen Leviathan schrumpfen, der über jeder staatlichen Machtausübung liegt. Er garantiert seinem Selbstverständnis nach gleichermaßen den Schutz vor der eigenen Macht wie den Schutz der Bürger voreinander. Machtwechsel darf keine existenzielle Angst verursachen. Entscheidende Prinzipien stehen darum auch bei einem Machtwechsel nicht zur Disposition. Diese Grundsätze eines modernen Verfassungsstaats lassen Spielraum für die moralischen Entscheidungen der Individuen, bieten aber nichtsdestoweniger eine moralische Orientierung. Eine Gesellschaft, die den Staat bei der Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und des Diskriminierungsverbots im Stich lässt, vergeht sich an der Gerechtigkeit und wird durch die Aushöhlung elementarer Tugenden die eigene Lebensfähigkeit aufs Spiel setzen.
Zu den Voraussetzungen dafür, dass Menschen auch unabhängig vom Staatsapparat miteinander auskommen, gehört die Fähigkeit zum Umgang mit Differenz. Konflikte sind nicht mehr lösbar, wenn sie staatlichen wie gesellschaftlichen Akteuren fehlt. Der soziale Friede verlangt eine Atmosphäre, die durch Toleranz und die Bereitschaft zur Anerkennung des anderen als prinzipiell gleichrangig und gleichberechtigt gekennzeichnet ist. Die so genannten NSU-Morde und die Geschichte ihrer lange unterbliebenen wirksamen Verfolgung bezeugen, dass dieser Friede auf gesellschaftlicher wie staatlicher Ebene gestört ist.
Auf den Demonstrationen und Kundgebungen, die auf diesen Tatbestand reagierten, war häufig die Parole zu vernehmen: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“ Betrachtet man Faschismus als eine Ideologie, die untrennbar mit einer Praxis verbunden ist, wie sie gerade auch in der genannten Mordserie sichtbar wurde, so muss man diesen Satz bestätigen. Die Gesinnungen, die hier zur Tat drängten, waren schlicht intolerabel. Das Anderssein der Mundlos und Böhnhardt hatte ebenso wenig Anspruch auf Duldung oder gar Anerkennung wie das eines Anders Behring Breivik, dessen xenophober Kreuzzugsaufruf niemanden über die mörderischen Konsequenzen im Zweifel lassen konnte.
Den Opfern des Zwickauer Trios war seitens der Mehrheitsgesellschaft Anerkennung weitgehend versagt geblieben, und das, wie die Art und Weise der Ermittlungen zeigte, über den Tod hinaus. Was an ihnen anders war, war in den Augen der Mörder etwas mit der ganzen Person zu Vernichtendes. Sie dachten im Hegelschen Sinne abstrakt, weil sie aus dem Komplex der Eigenschaften, die eine unverwechselbare Individualität ausmachen, eine einzige herauslösten: Die vage Bestimmung der Opfer als Fremde machte sie zur Zielscheibe. Das entsprechende Weltbild ist binär kodiert: Es geht am Ende nur noch um die Frage, wer erschossen werden soll und wer nicht.
Keine Gesellschaft kann die Verbreitung von Ideologien dulden, die auf solches hinauslaufen. Für Europa kann darum das traditionelle US-amerikanische Muster sehr weit gezogener Grenzen der Meinungsfreiheit aus Gründen der geschichtlichen Erfahrung nur bedingt als vorbildlich gelten. So kann man sich beispielsweise diesseits des Atlantiks nicht der nur scheinbar paradoxen Einsicht verschließen, dass jemand, der den Holocaust leugnet, am Ende damit weitermachen will. Der von konservativer Seite oft verwendete Begriff der Toleranzfalle findet hier seine Berechtigung. Wenn das Intolerable gleichmütig und fortgesetzt toleriert wird, werden die Brandstifter Biedermanns Haus unweigerlich abfackeln – wie in deutschen Städten zum Schaden von Biedermanns Mietern während der vergangenen Jahrzehnte mehrfach geschehen.
II
Biedermanns Haus hat viele Mieter. Nicht alle hegen große Zuneigung zueinander. Die Anlässe, jemanden als Brandstifter zu bezeichnen und nach den entsprechenden Maßnahmen zu rufen, sind darum zahlreich. Aber man muss nicht allen Anfängen wehren, denn nicht jeder Anfang ist eine Zündschnur. Und man kann an vielem Anstoß nehmen, es aber auch lassen, indem man ihn eben nicht nimmt. Man hat in diesem Punkt durchaus eine Wahl. Ein Beispiel hierfür sind die Auseinandersetzungen um die vor einigen Jahren in der dänischen Zeitung „Jyllands Posten“ veröffentlichten „Mohammed-Karikaturen“. Interessant daran ist die Tatsache, dass sich die empörten Muslime meist über die despektierliche Darstellung des Propheten beschwerten, und nicht so sehr über ein sie als angeblich gefährliche Minderheit ausgrenzendes Zerrbild. Die gewaltsamen Auswüchse der muslimischen Reaktionen waren von religiösem Eifer befeuert und hatten nicht mehr viel mit einer selbstbewussten Zurückweisung denunziatorischer Darstellungen zu tun. Das machte diese wiederum zu einer Art self fulfilling prophecy. Man musste angesichts der Ausschreitungen, Morddrohungen und Anschläge den Karikaturen nachträglich in der Sache eine gewisse Berechtigung zugestehen.
Es gab nun einen Anlass, das europäische Verständnis von Meinungsfreiheit zu verteidigen. Dass die entsprechenden Verlautbarungen reichlich flau ausfielen, ist eine Schande. Es wäre in wesentlich entschiedenerer Form klarzustellen gewesen, dass auch eine rüde und grobschlächtige Religionskritik im Gegensatz zu Mordaufrufen von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Wo Religionsfreiheit herrscht, besteht nicht nur die Freiheit die eigene Religion zu wählen, sondern auch gegebenenfalls die eigene Religionsgemeinschaft endgültig zu verlassen und die Gründe dieser Entscheidung öffentlich zu artikulieren, und zwar ohne dass man mit Sanktionen rechnen muss. Es muss auch erlaubt sein zu erklären, warum man sich einem bestimmten Bekenntnis nicht angehört. Religionsfreiheit schließt das Recht auf Religionskritik ein. Das mag für die Gläubigen manchmal bitter sein, aber man kann sie nicht von der Pflicht befreien, so etwas zu ertragen. Die anderen haben schließlich ebenfalls die Pflicht, das Fortbestehen ihnen missliebiger Überzeugungen hinzunehmen, sofern diese nicht auf Mord und Totschlag hinauslaufen.
Ob das Gebot, die Gefühle des anderen nach Möglichkeit nicht zu verletzen, der Moral oder der Konvention angehört, ist nicht leicht zu entscheiden. Justiziabel ist es aber nur insoweit, wie extrem herabsetzende öffentliche Äußerungen über Minderheiten auf Grund ihres hetzerischen Charakters den inneren Frieden gefährden. Die moralische Dimension eines konventionellen Beharrens darauf, dass „sich bestimmte Dinge nicht gehören“, ist zwar nicht zu übersehen. Aber es ist zweifelhaft, ob es als Mittel gegen die Auswirkungen gesellschaftlicher Fragmentierung ausreicht, einfach nur höflich zu sein. Das pädagogische Einüben taktvollerer Umgangsformen kann gesellschaftliche Spannungen nämlich nicht vollständig verhindern. Gruppen, die vor allem durch religiöse und ethnische Identitäten bestimmt sind, ertragen einander vielleicht gerade noch, aber es kann nicht mehr in größerem Maße davon die Rede sein, dass sie einander respektieren oder anerkennen. Das sichtbare Wachstum der Bewegungen, Initiativen und Organisationen unterschiedlichster Couleur, die längst jede Duldsamkeit aus ihrem Verhaltensrepertoire gestrichen haben, deutet darauf hin, dass wechselseitige Anerkennung an Boden zu verlieren droht.
Zu den Ursachen eines solchen Bodenverlusts zählen überzogene Ansprüche, die das Gleichgewicht der Anerkennung bedrohen und Intoleranz fördern. Eines der ersten neueren Beispiele dafür, wie man sich einen nachhaltigen Anerkennungsverlust einhandeln kann, gerade wenn man es mit dem Verlangen nach Anerkennung übertreibt, liegt inzwischen ein knappes Vierteljahrhundert zurück. Es repräsentiert die angedeutete Konfliktstruktur in idealtypischer Weise. 1989 veranstaltete das „Bradford Council of Mosques“ eine öffentliche Bücherverbrennung. Verbrannt wurde Salman Rushdies Roman „The Satanic Verses“. Die Reaktion auf dieses Ereignis war bezeichnend für die Entwicklung, die danach einsetzte. Einigen Labour-Politikern war es damals wichtiger, den möglichen Verlust bis dahin verlässlicher Stammwähler zu vermeiden als gegen die eigene Klientel das Grundrecht der Meinungs- und Kunstfreiheit zu verteidigen. Sie setzten sich daraufhin an die Spitze einer Bewegung zahlreicher muslimischer Briten, die auf ein Verbot des Romans drängten. In Deutschland konnte der Roman nur im eigens dazu gegründeten „Artikel 19 Verlag“ erscheinen. Unter Berufung auf den entsprechenden Artikel der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen firmierte damals eine Vielzahl von Personen des öffentlichen Lebens als Herausgeber.
Inzwischen ist es längst nicht mehr sicher, ob selbst ein Autor vom Range Rushdies noch der Unterstützung aller sicher sein kann, die sich damals – vereinzelt schon nicht ohne einen gewissen Widerwillen – schützend vor ihn stellten. Es ist ein Zurückweichen vor Ansprüchen zu beobachten, wie sie mit der taktischen Larmoyanz von Dauerbeleidigten einhergehen, deren Frustrationstoleranz durch Rückschläge für ihr Hegemoniestreben ein wenig überstrapaziert wurde. So ist Peter Sloterdijk ausnahmsweise zuzustimmen, wenn er schreibt:
(…) manche muslimische Eiferer (versäumen) (…) keine Gelegenheit, sich von Ungläubigen beleidigt zu fühlen. Sie antworten auf die zum gutteil eingebildeten oder herbeigewarteten Angriffe mit zelotischen Grenzverstärkungen.
Der Versuch eines einseitigen Grenzabbaus führt folgerichtig zur Identifikation mit dem Aggressor. Ein von dem hier zugrunde liegenden Konflikt unabhängiges Problem, nämlich eine in Teilen der Bevölkerung real vorhandene aggressive Fremdenfeindlichkeit, wird in die unheilschwangere Gemengelage dergestalt verrührt, dass plötzlich Intolerables tolerabel erscheint und um des lieben Friedens willen bei Strafe der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Gutwilligen geduldet werden muss. Entsprechend werden selbst gemäßigte Islamkritiker unter Verwendung des Islamophobie-Begriffs von Multikulturalismus-Idyllikern systematisch als Rassisten stigmatisiert. Die Strategie ist wirksam, obwohl der Begriff vollkommen unsinnig ist: Er unterstellt nicht nur, man setze eine Religion mit einer Ethnie oder Rasse gleich und kenne keinerlei Differenzierungen innerhalb des Spektrums eines variantenreichen religiösen Bekenntnisses, sondern pathologisiert kategorisch jede Kritik an diesem, so als ob es sich um eine Erscheinung in der Art argumentativ haltloser und darum offensichtlich krankhafter Einstellungen wie Xenophobie oder Homophobie handele, die das entsprechende Suffix zu Recht tragen.
Wenn der Vorwurf der geistigen Brandstiftung die öffentliche Debatte derart zu vergiften beginnt, besteht die Gefahr, dass sich unter ehemals kritischen Zeitgenossen genau die Haltung durchzusetzen beginnt, mit der britische Politiker und Gewerkschafter 1989 Verrat an Grundrechten übten. Es geht die Angst um, man könnte sich schon durch ein klares Eintreten für Meinungsfreiheit jenem Vorwurf aussetzen. Von ihr erfasst, wird man für diejenigen lenkbar, die man einmal glaubte als Schutzbefohlene adoptieren zu müssen. Das neuerdings zu beobachtende Trittbrettfahrertum der katholischen Kirche sollte in diesem Zusammenhang zu denken geben. Seit wieder verstärkt kritische Worte über sie fallen, operiert sie mit dem Begriff der „Katholikenphobie“, um so die Chancen zu nutzen, die sich aus der Übernahme des Musters einer von Muslimen eingeleiteten Immunisierungsstrategie für sie ergeben. Die angebliche „Rückkehr der Religionen“ zieht offenkundig Angriffe auf die weltanschauliche Neutralität des Staates sowie die Freiheit der Kunst, der Meinung und der Religion nach sich. Vor allem die negative Religionsfreiheit und das davon abgeleitete Recht auf Religionskritik sind gefährdet.
Der „Fall Rushdie“ hat einen Konflikt zutage gefördert, dessen Frontlinien von den Verfechtern politischer Korrektheit nicht zum Verschwinden gebracht werden können. In dieser Auseinandersetzung stehen fundamentale Freiheitsrechte auf dem Spiel. Das wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was damals eigentlich der Gegenstand weltweiter Aufregung war: In Rushdies Roman wird bestritten, dass der Koran Gottes Wort und als solches unumstößliche geoffenbarte Wahrheit sei. Der nach der tradierten islamischen Lehre als Vermittler dieser Wahrheit fungierende Erzengel Gibril/Gabriel ist auf einer in der Gegenwart spielenden Handlungsebene des Romans ein von bizarren Abenteuern verwirrter Bollywood-Schauspieler gleichen Namens. In seiner „Traumrolle“ erscheint er dem Propheten Mahound/Mohammed, der auf seinem Berg die Erleuchtung erwartet. Was er stattdessen von Gibril bekommt, ist nichts weiter als ein Ergebnis der Verlegenheit eines uninspirierten Stars drittklassiger filmischer Massenware.
Man kann das als eine existenzialistische Parabel auf die Aussichtslosigkeit der menschlichen Sehnsucht nach Führung und Offenbarung lesen. Aufschluss über eine Essenz, die der Existenz ontologisch vorausginge, ist von den kopflosen Einbläsereien des falschen Erzengels nicht zu erwarten. Mahound ist insofern Träger und Verbreiter einer Haltung, die Sartre mauvaise foi nennt. Das Missverstehen der Situation durch den angeblichen Propheten ist die Metapher, welche die unaufrichtige Leugnung des délaissement, der „Verlassenheit“ des Menschen als „nicht festgestelltes Tier“ (Nietzsche) abbildet. Der Verfasser eines heiligen Buchs voller Vorschriften und Drohungen, das auf ein solches Missverständnis oder besser: auf eine solche Unaufrichtigkeit zurückgeht, hat niemandem etwas voraus; er ist ein Mensch wie jeder andere, denn es gibt für den Nichtgläubigen ausschließlich selbst ernannte Propheten. Eine transzendente Approbation muss ihm notwendigerweise als halluziniert oder erschwindelt gelten.
Mahound wird unsympathischer gezeichnet als beispielsweise Moses in Thomas Manns thematisch vergleichbarer Erzählung „Das Gesetz“, aber der Unterschied ist nur graduell. Der Mangel an Humor, den Mann wie Rushdie ihrem jeweiligen Helden gleichermaßen bescheinigen, hat sich nach Erscheinen von Rushdies Romans als die augenfälligste Eigenschaft einer großen Zahl der Gläubigen in aller Welt herausgestellt. Gelesen hatten den Roman die wenigsten, vermutlich nicht einmal der Ayatollah Khomeini, der erst nach der Bradforder Initiative seinen als Fatwa deklarierten Mordbefehl erließ. Papst Johannes Paul II. äußerte bezeichnenderweise Verständnis in der Sache, wenn er auch die praktische Anwendung nicht offen billigen konnte. Explizite inquisitionsnostalgische Anwandlungen musste er sich mangels allgemeiner Anerkennung seiner nur mehr systemintern geltenden absoluten Autorität verkneifen.
Beide Religionsführer bestritten – unterstützt von so manchem Berufskollegen in anderen Teilen der Welt – Rushdie das Recht, als Nichtgläubiger seine eigene Antwort auf eine Frage literarisch zu artikulieren, die der blind Gläubige wähnt nicht mehr stellen zu dürfen. Die Zumutung, die Koexistenz einander im Kern widersprechender Überzeugungen hinzunehmen, wird von diesem entsprechend als Gotteslästerung zurückgewiesen. Nicht einmal leise Zweifel kann der fundamentalistische Fanatiker dulden. Dem religiösen Anderssein wird das Daseinsrecht prinzipiell abgesprochen. Die wie auch immer begründete Weigerung, den exklusiven Wahrheitsanspruch der religiösen Glaubenssätze und die Verbindlichkeit der einschlägigen Gebote anzuerkennen, stellt ihn für deren Anhänger außerhalb aller humanen Schutzgarantien.
Der solcherart Gläubige kann den Ungläubigen weder anerkennen noch tolerieren. Der Nichtglaubende wäre prinzipiell zur Toleranz gegenüber dem Gläubigen bereit, muss ihm aber die Anerkennung verweigern, solange zentrale Glaubensinhalte Züge eines mit seinen Lebensinteressen unvereinbaren Wahnsystems der eben geschilderten Art aufweisen. Wer die physische Existenz Anders- oder Nichtgläubiger als nicht hinnehmbar betrachtet, ist gemeingefährlich. Wer eine dogmatische religiöse (oder säkulare) Weltsicht nicht nachvollziehen kann und sich ihr um der Wahrung der eigenen geistigen Identität willen nicht anschließt, ist es nicht. Wir haben es mit einem klassischen Antagonismus zu tun: Es liegt in der Natur der Sache, dass keine der beiden Seiten für die je andere zu Anerkennung oder Toleranz in der Lage ist, die eine aufgrund eines pathologischen Tatbestands, die andere aus Gründen der Selbsterhaltung. Der Fanatiker und der Anders- oder Nichtgläubige sehen einander so, wie sie einander notwendigerweise sehen müssen. Rushdies Roman beschreibt einen objektiven Sachverhalt. Der Konflikt um „The Satanic Verses“ macht ihn noch einmal sichtbar und zeigt, dass die Anhänger eines strengen Offenbarungsglaubens dessen Überzeugungskraft nicht überschätzen dürfen und kein Recht haben, ihr gewaltsam nachzuhelfen.
Unversöhnliche Gegensätze können nicht auf Dauer bestehen, ohne dass äußerst unerfreuliche Entwicklungen eintreten. Die Beantwortung der Frage, wie sich dieser Antagonismus entschärfen, auflösen oder aufheben lässt, hat darum große Dringlichkeit. Bei der Suche nach einer Antwort hat man sich auch selbst noch einmal klarzumachen, dass Zelotentum nicht mit einer Haltung vereinbart werden kann, die sich Aufklärung und Humanität verpflichtet weiß. Nach Georg Lukács macht „das Ausschalten aller Vermittlungskategorien“ die typische Verfahrensweise des Sektierers aus. Wenn im Folgenden die Möglichkeiten und Grenzen von Versöhnung geprüft werden sollen, sollte man diesen Satz in Erinnerung behalten.
Die Vorstellung, man habe es mit lauter Fanatikern zu tun, die auf Terror und totalitäre Herrschaft aus sind, ist ihrerseits sektiererisch genug. Broders böses Wort, dem zufolge sich Islam zu Islamismus verhalte wie Terror zu Terrorismus, ist von Volksverhetzung nicht weit entfernt. Eine solche Position sieht von allen Differenzierungen innerhalb des Gegenstands ihrer Beobachtung ab. Allerdings führt der bloße Hinweis auf den unendlichen Variantenreichtum des Islam nicht weit. Er ist logisch nicht zu vereinbaren mit der Idee eines „wahren Islam“, der – wie immer versichert wird – ganz und gar friedlich sei. Zu letzterem bleibt festzuhalten: Nichts ist irgendetwas „an sich“. Man kann sich mithin aus der unermesslichen Vielfalt des Angebots nicht das „einzig Wahre“ heraussuchen. Was die katholische Kirche in ihrem geschichtlich entfalteten „Wesen“ ausmacht, repräsentieren nicht nur der heilige Franziskus, die Geschwister Scholl oder die Befreiungstheologen, sondern auch die Kreuzzugsprediger, Torquemada, Joseph de Maistre oder Ante Pavelic. Genauso wenig lassen sich Sayyid Qutb, Amin Al-Husseini, die Mullahs in Teheran und Osama Bin Laden aus der vielfach aufgespaltenen, aber immer noch identifizierbaren Gemeinschaft der Muslime ausbürgern. Die Proklamation gegenseitiger Ausschlüsse ändert daran nichts. Das Spektrum reicht von den undogmatischen und aufgeschlossenen Aleviten bis zu den dogmatisch vernagelten Wahabiten. Für jemanden, der sich der Skala erinnert, die von Rosa Luxemburg bis zu Stalin und Mao reicht, kann das so neu nicht sein.
Ein solches Schema ist vielfach übertragbar. Immer vermittelt es den Eindruck von Unübersichtlichkeit. Wie gezeigt, äußert sich die Kapitulation vor ihr auf zweierlei Weise: Entweder es wird ein Einheitsbrei von Verdammungswürdigkeiten aufgefahren oder es wird ein aus beliebigen Elementen zusammengesetzter Typus konstruiert, der reines Wunschdenken spiegelt. Aber statt bei der Suche nach dem vermeintlich Wahren wiederum nur irreführenden Wahrheitsansprüchen aufzusitzen, sollte man sich an das Praktikable halten. Die Frage muss darum lauten: Welche unter den gegebenen Traditionen ist anschlussfähig?
Mit dieser Frage handelt man sich eine Gegenfrage ein: An was? Ihr folgt meist noch die Zurückweisung des angeblich falschen Anspruchs, man habe eine Art archimedischen Punkt gefunden, der Vorwurf also, man usurpiere eine Art höhere Warte, zu der man denen den Zutritt verwehrt, die man an dem so formulierten Maßstab messen will. Wer die Aufklärung, die die Toleranzidee einst schlüssig begründete, lediglich als ein besonders bizarres Stück europäischer Folklore betrachtet, mag diesen Einwand überzeugend finden. Aber für den ist die Frage auch fast schon beantwortet: Wer das so sieht, legt auf Anschlussfähigkeit wohl auch keinen Wert. Denn eine andere Gesellschaftsverfassung als die mit dem geistigen Instrumentarium der Aufklärung geschichtlich herausexperimentierte kann einer friedlichen Pluralität nicht zugrunde gelegt werden, wenn Freiheit und Rechtssicherheit ihre Position in der Rangordnung der Werte behalten sollen. Wer sich gegen ethnische, kulturelle oder religiöse Diskriminierung wehrt, entzieht sich ohne diesen speziellen Wertbezug selbst den Boden.
III
Wie schon die bisherigen Beispiele zeigen, ist nicht alles anschlussfähig. Andere Entwürfe wie z. B. die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam aus dem Jahre 1990 müssen an der Aufgabe, den Grund für ein Zusammenleben in kultureller Vielfalt zu legen, scheitern. Sie würden die Gewaltexzesse gerade befördern, die sie in Fällen wie den oben skizzierten verhindern müssten. Eine friedliche, nicht-repressive Konfliktaustragung verlangt eine andere Grundlage als die Dominanz einer einzigen Kultur. Sie verbietet auch die Einführung einer solchen Dominanz auf Umwegen. Wenn ein Kuchen gerecht zwischen zwei Personen geteilt werden soll, und einer auf dem ganzen Kuchen besteht, kann es keinen Kompromiss geben, der einem nur ein Viertel lässt, während der andere mit drei Vierteln abzieht. Genauso wenig kann man verlangen, Elemente der Scharia in das Rechtssystem eines demokratischen Verfassungsstaats aufzunehmen, für den die europäische Aufklärungsphilosophie vor mehr als drei Jahrhunderten den Grund legte. In unserem Beispiel entspricht dieses von religiösen Präferenzen unabhängige Denken dem Prinzip einer Teilung 1:1 – oder der Forderung nach gegenseitiger Anerkennung. Das Beispiel zeigt: Aufklärung ist nicht als eine beliebige kulturelle Orientierung unter vielen relativierbar.
Aufklärung ist außerdem kein europäisches Monopol. Muslimische Denker wie der Perser Ibn Sina oder der Andalusier Ibn Ruschd erfreuten sich zu ihrer Zeit einer nahezu schrankenlosen Geistesfreiheit. Zwischen ihr und dem hochmittelalterlichen Islam mussten sie noch keinen Widerspruch sehen. Jedenfalls zunächst nicht: Ibn Ruschd fiel schließlich bei den Almohaden in Ungnade, die den ebenso unerschrockenen wie unabhängigen Vernunftgebrauch des Philosophen mit einer zeitweiligen Exilierung beantworteten. Das Beispiel der Herrschaft der berberischen Dynastien der Almoraviden und Almohaden, unter denen auf dem arabisch beherrschten Teil der iberischen Halbinsel der Vormarsch einer zuvor kaum geübten religiösen Intoleranz begann, lässt erkennen: Eine unter der Vorherrschaft einer Religion geübte religiöse und kulturelle Duldsamkeit ist keine gesicherte Errungenschaft, sondern kann jederzeit aufgekündigt werden. Vernunft setzt der Willkür engere Grenzen. Das geschieht eben in dem Maße, in welchem sie die Grenzen des Territoriums der Freiheit umso weiter zieht.
Die Freiheit der Religionsausübung wird im säkularen Rechtsstaat dadurch garantiert, dass das religiöse Bekenntnis mit seinen alltagskulturellen Implikationen einer privaten Schutzsphäre zugerechnet wird, die staatlicher Regulierung weitgehend entzogen ist. In ihr können aber individuelle Rechte nicht durch gruppenspezifische religiöse Vorschriften außer Kraft gesetzt werden. Theokratische Vorstellungen haben keinen Platz in einer Verfassung, in welcher der politische, religiöse und private Bereich unterschieden werden. Wo es keinen Kaiser mehr gibt, der vom Papst gekrönt wird, gehört die Idee einer religiösen Kontrolle der Politik endgültig der Vergangenheit an.
Unter solchen Bedingungen z. B. eine islamische Republik nach iranischem Muster zu fordern und diesen Forderungen politischen Nachdruck verleihen zu wollen, würde die Grenzen der Toleranz überschreiten. Die derzeitige Lage im Iran ist bekanntlich durch eine krasse Missachtung der Rechte des Individuums gekennzeichnet. Um solche Zustände zu verhindern, müssen individuelle Rechte vor gruppenspezifischen Sonderrechten, wie sie von ethnischen Minderheiten, Familienclans und Religionsgemeinschaften bisweilen gefordert werden, Vorrang haben. Gelänge es einer einzelnen gesellschaftlichen Gruppe, die sich durch einen exklusiven religiösen Wahrheitsanspruch definiert, eine dominante Position zu erobern, könnte sie auch in die Rechte der Mitglieder anderer Gruppen eingreifen. Darum bildet auch keine Religionsgemeinschaft eine vollständig nach außen abgeschlossene Sphäre eigenen Rechts. Es ist den Angehörigen der entsprechenden Gemeinschaften verwehrt, religionsspezifischen Rechtsvorstellungen, die mit staatlichen nicht übereinstimmen, zur allgemeinen Durchsetzung zu verhelfen. Ebenso wenig gibt es eine legitime Erzwingungsgewalt gegenüber den Individuen, die der eigenen Gemeinschaft angehören. Diese Einschränkung macht kulturelle Vielfalt zu einer konfliktträchtigen Angelegenheit.
Der Staat ist in diesem Konflikt nicht neutral. Paradox gesprochen: Er kann gerade darum nicht neutral sein, weil er in religiösen und weltanschaulichen Dingen neutral sein muss; religiös begründete Parteilichkeitszumutungen hat er zurückzuweisen. Die umgebende Mehrheitsgesellschaft kann zur Lösung des Konflikts allenfalls atmosphärisch etwas beitragen. Die Hauptlast liegt bei den Gläubigen und kann diesen auch nicht abgenommen werden. Das Nebeneinander zahlloser evangelikaler Gemeinschaften, die sich in den USA gegenseitig zu neutralisieren scheinen, kann kein brauchbares Modell liefern; Abgrenzung nach außen und Konformitätsdruck nach innen müssen einander bei wachsenden Ungleichgewichten, entsprechender gesellschaftlicher Polarisierung und gleich bleibend niedrigem Bildungsniveau notwendigerweise verstärken. Bessere Impulse kommen aus der europäischen Tradition, auch wenn man dem alten Europa den Vorwurf der Intoleranz insoweit nicht ersparen kann, als sie das religiöse Sektierertum, das heute als Fundamentalismus der christlichen Evangelikalen in den USA fortlebt, in die Neue Welt entsorgte. Die von den europäischen Siegern in diesem Konflikt vertretene Idee einer reinen Lehre mochte so fragwürdig wie auch immer sein. Das dem Exodus der Sektierer folgende ernsthafte diskursive Bemühen um sie war ein bleibendes Verdienst. Es waren die Zurückgebliebenen, die den geistigen Fortschritt beförderten. Die Weiterentwicklung der europäischen Theologie war ein solcher Fortschritt.
Ihre größte Errungenschaft ist die als „Kunstlehre des Verstehens“ entwickelte Hermeneutik, die seit rund 200 Jahren den historisch-kritischen Zugang zu religiösen Grundlagentexten ermöglicht. Sie ist das Heilmittel gegen den Fundamentalismus, der von allen Bekenntnissen her droht, die mit absoluten Wahrheitsansprüchen aufwarten. Fundamentalismus besteht bekanntlich darin, dass ein so genannter Offenbarungstext – als „Fundament“ – wörtlich genommen wird. Es ist für Fundamentalisten strikt verboten, geschichtliche Entstehungsbedingungen zu berücksichtigen. Die Erschließung von für Gegenwart und Zukunft fruchtbaren Bedeutungsressourcen wird blockiert. Religiöse Praxis besteht für den Gläubigen nur noch darin, sich selbst und andere der eigenen religiösen Identität zu versichern. Das geschieht durch Befolgung von Vorschriften, deren Absurdität in dem Maße zunehmen muss, in welchem sich die Kluft zwischen dem Wortlaut des vor langer Zeit schriftlich fixierten Offenbarungsinhalts und einer gegenwärtigen Realität immer weiter auftut. Wenn die Lehre dieser Realität nicht angepasst werden darf, bleibt nur der Versuch übrig, den umgekehrten Weg zu gehen. Diesem Versuch ist Gewalt notwendig inhärent.
Das kann mit Hilfe eines historisch-kritischen Verständnisses religiöser Grundlagentexte vermieden werden, so dass religiöse Identitäten weiterhin Geborgenheit und Orientierung versprechen können, ohne dass den Angehörigen anderer Bekenntnisse das Daseinsrecht bestritten wird. Selbst Gläubige und Nichtgläubige können unter dieser Voraussetzung einander mit Respekt begegnen, wenn sie Grund haben, beim je anderen das Bemühen um intellektuelle Redlichkeit anzuerkennen.
Ein friedliches Zusammenleben verlangt dem Einzelnen also eine „Relativierungsleistung“ ab. Die Grundlage hierfür ist kritische Rationalität. Wer sich ihr verweigert, hat, solange er seine Ideologie nicht ausleben will, immer noch Recht darauf, toleriert zu werden. Anerkennung als gleichwertiger Gesprächspartner kann jemand, der sich seinerseits weigert, jene prinzipiell allen gemeinsame Basis anzuerkennen, nicht beanspruchen. Er verweigert damit ja auch jedem die Anerkennung, der nicht mit ihm übereinstimmt. Ein solcher Gegensatz muss aber nicht ausbrechen, solange die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem respektiert wird. Schon durch Einhaltung elementarer konventioneller Alltagsregeln können Provokationen vermieden und Konflikte abgewendet werden. Privatdinge wie Religion sind dann kein gefährlicher Sprengstoff, wenn der Gläubige nicht in der Öffentlichkeit nach dem Zünder sucht. Die Anerkennung der Tatsache, dass individuelle Rechte kein Zünder sind, ist dabei immer vorausgesetzt.
Dass Gläubige sich von anderen Glaubensrichtungen und Glaubensgemeinschaften abgrenzen, ist eine Tendenz, die nicht von globalen Entwicklungen abgekoppelt werden kann. Aber man kann darin auch ein partielles Versagen einer Mehrheitsgesellschaft sehen, die mit der Auszahlung des geistigen Kredits, den Anerkennung erfordert, oft zu sehr zögerte oder sie sogar blockierte. Das gilt nicht für den Umgang mit Sektierern und Salafisten, mit denen naturgemäß nicht zurechtzukommen ist, aber die Erfahrung wiederholter Zurückweisung muss auch bei manchen anderen dazu führen, dass sie bei ihrer Suche nach Zuflucht nicht allzu wählerisch verfahren. Etwas anderes als kategorische Ablehnung, die im einzelnen Fall bis zur physischen Bedrohung reicht, würde ihnen eine Wahl lassen: Das Bewusstsein der Chance, selbst Anerkennung zu finden, würde auch die Bereitschaft fördern, die Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaats anzuerkennen.
Die derzeitige Situation scheint stattdessen die Neigung zu öffentlichem Bekenntnis und – meist mildem – Märtyrertum herauszufordern. Ein Ausdruck dieses Trends ist das Kopftuch. Als modisches Accessoire wäre es ohne Bedeutung. Es als unbedingt gültiges koranisches Gebot zu begreifen, wäre im Sinne der oben angestellten Überlegungen streng genommen Fundamentalismus. Als Zurschautragen religiöser Zugehörigkeit wäre es Ausdruck einer Situation, in der die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft glauben, öffentlich Präsenz zeigen zu müssen, um auf diese Weise Diskriminierung entgegenzuwirken. Dass dieses öffentliche Bekenntnis nur von Frauen abgelegt werden kann, muss jeden bedenklich stimmen, dem es mit Gleichberechtigung ernst ist. Es sollte aber noch nicht dazu führen, dass die tendenzielle Selbstdiskriminierung wiederum mit Diskriminierung beantwortet wird.
Die Grenze wird überschritten, wenn Lehrerinnen, Richterinnen oder Staatsanwältinnen darauf bestehen, ein Kopftuch zu tragen. Ihre Funktion – nicht nur bei Lehrerinnen handelt es sich um eine eine Vorbildfunktion – würde das mehrdeutige Symbol Kopftuch mit der Unterscheidung zwischen guten und schlechten Musliminnen aufladen. Eine solche Unterscheidung darf in Erziehungsprozessen oder in der Sphäre des Rechts keine Rolle spielen. Anderenfalls würde die Gleichberechtigungsgarantie des Grundgesetzes geschwächt. Beim Kopftuchverbot für Lehrerinnen und bestimmte Juristinnen sollte es darum bleiben. Eine Muslima, die sich für das Lehramt entschieden hat, hat die Wahl zwischen verschiedenen Interpretationen der einschlägigen Koranstelle. Nicht jede Wahl ist für die Ausübung ihrer künftigen Tätigkeit akzeptabel.
Als Stammvater aller Konstruktivisten und Dekonstruktivisten hat Nietzsche die Ansicht vertreten, es gebe keine Wirklichkeit, sondern nur Interpretationen. Wenn diese Aussage für irgend etwas gilt, so gilt sie für die von so genannten heiligen Texten angeblich repräsentierte Realität. Man sollte darum aber nicht das hermeneutische Kind mit dem historisch verunreinigten Bade eines naiven orthodoxen „Textrealismus“ ausschütten. Die Versuche islamischer Gelehrter, den Grundlagen ihrer Religion Inhalte abzugewinnen, die für die Bedingungen lebbarer kultureller Vielfalt anschlussfähig sind, gibt es. Ob sie sich damit beim Klerus und den Gläubigen durchsetzen können, ist noch offen. Aber Offenheit für das humane Potenzial auch dieser Religion ist eine der Voraussetzungen für den Erfolg hermeneutischer Bemühungen um einen an Widersprüchen reichen Text, der für das Bewusstsein von rund eineinhalb Milliarden Menschen seine prägende Kraft behalten hat. Diesen Anstrengungen eine Chance zu geben, sollten Kritiker wie Strenggläubige als eine Verpflichtung begreifen, deren Anerkennung geeignet ist, die Gefahr eines Kampfs der Kulturen zu bannen. Einseitige Schuldzuweisungen wären im Falle seines Ausbruchs verfehlt.
Ergänzung nach dem 7. Januar 2015
Nach den Morden, welche die drei Terroristen in Paris an Polizisten, Journalisten und Mitbürgern jüdischen Glaubens verübten, erhoben geistliche Autoritäten des Islam und Politiker der islamischen Welt die Forderung, das Verbot, den Propheten Mohammed abzubilden oder gar zu beleidigen, endlich um des lieben Friedens willen zu beachten. Bei dieser Stellungnahme handelt es sich eindeutig um eine Kompetenzüberschreitung. Ein solches Verbot kann nur für diejenigen gelten, die Mohammed als den Propheten Allahs anerkennen. Dass für alle anderen Mohammed ein Mensch wie jeder andere ist, der ebenso wie die seiner Vermittlung zugeschriebenen Texte grundsätzlich der Möglichkeit der Kritik ausgesetzt werden muss, liegt in der Natur der Sache. Was Muslimen heilig ist, ist nicht automatisch für alle anderen gleichfalls heilig. Das zu erwarten würde einen Anspruch bedeuten, den man nur zurückweisen kann: den privilegierten Zugang des Islam zu Wahrheit – mit allen praktischen Konsequenzen. Wer den Islam davon ausnehmen will, wie alle anderen Religionen oder Weltanschauungen Objekt von Kritik und Satire sein zu können, verrät damit, dass er das Prinzip der Gleichrangigkeit aller Religionen, das der Rechtsstaat garantiert, nicht anerkennt. Ja, man kann solche Äußerungen als eine erpresserische Form der Missionierung verstehen oder als den Versuch, aus allen Nichtmuslimen Dhimmis zu machen, die ab sofort nach der Pfeife der Rechtgläubigen zu tanzen hätten. Keine Terrorwarnung kann Gründe liefern, derartigen Zumutungen nachzugeben. Der Hinweis auf verletzte religiöse Gefühle ist in diesem Zusammenhang verfehlt. Die entsprechenden emotionalen Dispositionen mögen ihre vom nicht immer zu Unrecht verhassten Westen zu verantwortenden materiellen Ursachen haben. Sie werden aber von machtbesessenen Fanatikern auf die skrupelloseste Weise ausgenutzt, um Massen zu mobilisieren, die ohne systematisch aufgestachelt zu werden, niemals auf die Idee kämen, sich über Dinge zu erregen, die sich außerhalb ihrer Sphäre abspielen. Der dem Zusammenhalt dienliche gemeinsame Feind soll nur noch eine Chance haben, wenn er sein Anderssein aufgibt. Selbst so mancher scheinbar moderate Würdenträger des Islam hat mit diesem kaum verhohlenen Anspruch die Maske fallen gelassen. Es bleibt festzuhalten: Eine andere Beziehung von religiösen Führern und Gläubigen zu den Grundlagentexten und Traditionen einer Religionsgemeinschaft als eine historisch-kritische ist mit den zentralen Rechtsgütern Freiheit und Menschenwürde grundsätzlich nicht vereinbar. Die wörtliche ist die dümmstmögliche Auslegung. Sie darf nicht der für alle geltende Maßstab sein.
Es handelt sich beim Versuch, solche unterirdisch-überirdischen Standards durchzusetzen, um den sichtlich bequemsten Weg der Herrschaftserschleichung. Hermeneutische Anstrengungen würden hingegen die Machtansprüche religiöser Autoritäten gefährden. Für diese haben sie den Nachteil, dass sie den zuvor für sakrosankt gehaltenen Gegenstand tendenziell auflösen. Wer die Kontrolle über die Massen behalten will, scheint daher auf Vereinfachungen nicht verzichten zu können, welche die Vernunft kategorisch ausschalten. An deren Stelle aktiviert man das mit blinder Gläubigkeit notwendig verknüpfte Aggressionspotenzial, indem man suggeriert, der Feind habe furchtbaren Frevel verübt, der nur mit Blut gesühnt werden könne. Boualem Sansal zufolge strebt der Islamismus nach totaler Herrschaft. Die Drohungen, alle „Charlies“ zu töten und, sollten die Beleidigungen des Propheten fortgesetzt werden, den dritten Weltkrieg zu entfesseln sind ein deutlicher Beleg für diese These.
Der neue Papst tritt mit seinem Äußerungen zum Thema in die Fußstapfen seiner Vorgänger. Er praktiziert die Art von Solidarität, die unter Konkurrenten innerhalb derselben Branche üblich ist. Sein an „street credibility“ ausgerichteter Ausspruch zum Thema rechtfertigt implizit die Gewaltexzesse, für die französische und zuvor dänische oder schwedische Karikaturen als willkommener Anlass herhalten mussten. Nicht einmal elementare Differenzierungen wie die zwischen den verschiednen Normensystemen Recht, Moral und Konvention besitzen für Franziskus noch Relevanz. Dass man das Recht, etwas zu tun, das unter den Aspekten des Takts oder der zu vermeidenden Folgen vielleicht nicht gerade geboten sein könnte, nichtsdestoweniger verteidigen muss, ist ein Gedanke, der ihm im Sinne seiner Massenwirksamkeit nicht unterkomplex genug ist.
Beschämend ist in diesem Zusammenhang die „Je ne suis pas Charlie“-Bewegung der politisch Korrekten. Sie offenbaren sich als nützliche Idioten der Verfechter jener Strategie, die künstlich am Leben erhaltene Empfindlichkeiten gewaltförmig gegen Kritik und Satire abzusichern bestrebt ist, um auf diese Weise jegliche Freiheit auszuhebeln. Es ist zu befürchten, dass man sie eines Tages vor den Nutznießern ihrer Solidarität wird retten müssen.
Die Aggressivität der Beschimpfungen, die auf Kritiker des „Kopftuchurteils“ des Bundesverfassungsgerichts herabregnen, stellt einen weiteren Tiefpunkt in der geistigen Entwicklung jener Spezies dar. Es ist, als ob ihre Vertreter nur einen Anlass suchten, andere als Rassisten zu beschimpfen, um sich selbst so unangefochten wie nur möglich als Antifaschisten darstellen zu können. Unter solchen Bedingungen kostet es schon einige Überwindung, sich mit derart selbstgerechten Zeitgenossen gegen PEGIDA oder die Brandstifter von Tröglitz demonstrierend auf die Straße zu begeben. Aber was sein muss, muss sein. Die Frage, ob dieser Minimalkonsens geeignet ist, so etwas wie Besinnung wieder herzustellen, wird noch zu klären sein.
Zum 18.10.2020
Deine Analyse gefällt mir. Du erklärst mir viele Aspekte und Zusammenhänge. Aber ich habe auch Kontakt zu jungen muslemischen Frauen, die immer noch stolz auf ihr Kopftuch sind. M.E. fehlt (wie Du auch schreibst) ein klarer und eindeutiger kultureller Austausch, der Miss-und Unverständnisse verhindert. Hier ist nach wie vor Politik gefordert.