Begriffe, die dem Erziehungs- und Bildungswesen ursprünglich ganz fremd sind, fangen an, die internen Debatten der Schulen und Hochschulen zu bestimmen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Begriff der Corporate Identity. Man kann in dieser Entwicklung ein Symptom sehen. Gerade die Institution Schule scheint von einer Kolonisierung bedroht, wie sie an den Universitäten schon um einiges weiter fortgeschritten ist. Bestätigt findet man diesen Eindruck sogar in Thesen, die einer Gesellschaftstheorie entstammen, die als konservativ oder technokratisch gilt: der von Niklas Luhmann entwickelten Theorie sozialer Systeme. So macht der Luhmann-Schüler Peter Fuchs in der Wirtschaft „das dominierende Phänomen dieser Gesellschaft“ aus. „Das im Kern Unwirtschaftliche“ – also alles andere – müsse sich durch sie, die Wirtschaft, „bewirtschaften lassen wollen“. Nach Fuchs verhält sich das gesellschaftliches Teilsystem Wirtschaft gegenüber den übrigen gesellschaftlichen Funktionssystemen – wie Recht, Politik, Erziehung, Wissenschaft, Kunst usw. – übergriffig.
Wenn von „der Wirtschaft“ die Rede ist, dann ist das meist irreführend. Soziale Systeme bestehen nicht aus Menschen oder Menschengruppen, sondern aus Kommunikationen. Diese unterscheiden sich voneinander durch ihre spezifischen Kodierungen: etwa die Wirtschaft durch zahlen und nicht zahlen und Erziehung durch lernen und nicht lernen. Ein System ist das, was in ihm passiert. Das Funktionssystem Wirtschaft hat also – und das gilt für alle anderen Systeme auch – keine zentrale Adresse, die als repräsentativ für das Ganze gelten könnte. Der Begriff schrumpft aber im üblichen Gebrauch auf eine Handvoll Verbände und Organisationen sowie deren Spitzenvertreter. Interessanterweise gehört der DGB nicht zu diesen Organisationen, obwohl dessen Mitglieder zu den an wirtschaftlichen Prozessen maßgeblich Beteiligten gehören.
Die Organisationen und Personen, die sich selbst „die Wirtschaft“ nennen, richten an das Bildungswesen Forderungen, die dessen Output betreffen und machen Druck auf die jeweiligen Schulbürokratien. Dieser Vorgang gibt Anlass zu einem Gedankenexperiment: Wenn „die Wirtschaft“ glaubt sagen zu dürfen, welchen durch Erziehung hervorzubringenden Menschentypus sie verbrauchen will, stellt sich umgekehrt die Frage, ob dann auch die erziehenden und erzogenen Menschen sagen könnten, welche Art Wirtschaft sie haben wollen. Ironischerweise ist es gerade der „theoretische Antihumanismus“ der Systemtheorie, der nicht nur letzteres, sondern auch ersteres ausschließt. Die Dominanz des Teilsystems Wirtschaft lässt sich daher in keiner Weise als legitim begründen.
Die Vorherrschaft des wirtschaftlichen Codes bedeutet das Operieren mit der Binäropposition Geld – kein Geld. Dem entspricht das Denken in Quantitätskategorien. Das bedeutet nach Fuchs für das Bildungswesen: „Erziehung ist keine Frage eines Ideals, sondern wird in Messbarkeiten transformiert.“ Was sich im Bildungswesen der Quantifizierbarkeit weitgehend entzieht, sind die Inhalte. Darum verlagert sich das Gewicht auf das Methodische. Inhalte werden beliebig austauschbar, wenn Lernen nur noch an Bedarfsgerechtigkeit orientiert ist. Es droht etwas in Vergessenheit zu geraten, das einmal grundlegend war: Inhalte hatten einmal die Funktion, Bildungserlebnisse auszulösen. Diese Erlebnisse vermochten eine prägende Wirkung zu entfalten. Eine solche Wirkung kann nicht durch Beliebiges oder gerade zufällig Vorgegebenes hervorgerufen werden. Verbindungen zwischen den in einer Gesellschaft zusammen lebenden Generationen können nicht ohne gemeinsame Traditionen hergestellt werden. Maßstäbe für Aktualität können nicht selbst aktuell sein.
Dessen ungeachtet tritt an die Stelle einer Sozialisation durch Bildung eine methodische Abrichtung. Einziges Motiv für die Unterwerfung unter die entsprechenden Prozeduren bleibt die Angst, einmal zu kurz zu kommen. Ziel ist die Herausbildung eines „flexiblen Menschen“, der beliebig transformierbar ist und dessen Fähigkeiten beliebig transferierbar sind, oder um es mit Brecht zu sagen: „ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die man für alles mieten kann.“ Das Leitbild einer stabilen autonomen Persönlichkeit hat abgedankt.
Der Originaltitel eines Buches des amerikanischen Soziologen Richard Sennett, das auf deutsch unter dem Titel „Der flexible Mensch“ erschienen ist, lautet „The Corrosion Of Character“. Charakter ist nach Sennett „der ethische Wert, den wir unseren eigenen Entscheidungen und unseren Beziehungen zu anderen zumessen“. Das Vordringen eines rein flexiblen Charakters lässt vermittels der sich entsprechend dieser Definition öffnenden Übertragungswege Fremdbestimmung endemisch werden. Das Erziehungsziel der ökonomischen Verwertbarkeit ist insofern ein in seinem Kern totalitäres Projekt: Es schließt alles aus, was über das gerade zufällig Gegebene hinaus weist; die Befangenheit in ihm wird zum Lebensprinzip erhoben.
Die von Sennett diagnostizierte Auflösung des Charakters ist ein Katastrophenprogramm. Ein Bildungssystem, das sich selbst dem Diktat wirtschaftlicher Interessen unterwirft, ist so charakterlos, wie diejenigen, die es ausspuckt. Bildung verstand sich einmal als Formung junger Menschen zu autonomen Subjekten. Der davon verbliebene Rest kommt allmählich auf nur mehr dekorative „Wertevermittlung“ auf dem lächerlichen Niveau von Sonntagsreden herunter. Das Ziel der eigentlichen Zurichtungsprozesse ist die Willfährigkeit gegenüber angeblich unabweisbaren Sachzwängen.
Das ist die Perspektive, wenn ein gesellschaftliches Teilsystem die spezifische Kodierung der übrigen aufzuheben droht: Eine Schule wird schließlich nach dem Muster eines Wirtschaftunternehmens geführt und der Jargon der Organisations- und Unternehmensberatung wird zum Ausweis derer, die kein anderes Prinzip kennen, als im Trend liegen zu wollen. Die Identität, auf die man sich unter solchen Bedingungen noch einschwören lassen kann, ist eine Attrappe.
Corporate Identity ist darum kein Begriff, der dem Selbstverständnis einer Bildungseinrichtung angemessen ist. Eine Schule ist keine „corporation“. Dass eine Schule eine Identität haben muss, versteht sich von selbst. Dass Schüler, Eltern und Lehrer sich mit ihrer Schule identifizieren können, bleibt äußerst erstrebenswert. Aber wenn man keine andere Wahl hat, ist der Corporative Identity eine andere Identität immer noch vorzuziehen: die des kleinen gallischen Dorfs, das wir aus „Asterix“ kennen. Das bedeutet keine Importblockade für Zaubertränke aus anderer als heimischer Braukunst. Aber die Fähigkeit, so gestärkt Römer zu verprügeln, sollte man sich erhalten.