(…) das transcendentale Objekt aber, welches der Grund dieser Erscheinung sein mag, die wir Materie nennen, ist ein bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns auch jemand sagen könnte.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft
Der Gebrauch des Adjektivs „spirituell“ und des davon abgeleiteten Substantivs „Spiritualität“ hat Konjunktur. Das bedeutet nicht, dass bei den Benutzern Klarheit über die Wortbedeutungen besteht. Eines steht aber fest: Die der so genannten Spiritualität Zugetanen können, sobald man sie um terminologischen Aufschluss bittet, nicht umhin, den Begriff des Geistes zu bemühen. Es gibt keinen schwierigeren. Geist rein negativ als unkörperliche Substanz zu bestimmen führt nicht weiter: Man möchte nicht wissen, was Geist nicht ist, man möchte wissen, was Geist ist.
Die griechischen Worte pneûma und psyché, zu deren möglichen Übersetzungen unter anderem auch das Wort Geist gehört, bezeichnen beide etwas, das so unkörperlich nicht ist, nämlich einen Lufthauch. Die Luft fassten schon Anaximenes und Demokrit als eine Art von Materie auf, der eine als Baustoff der Welt, der andere als etwas auf seine atomaren Bestandteile Zurückführbares. Es scheint, als käme jemand, den es zum Geist hinzieht und sich darum den Ursprüngen zuwendet, unweigerlich bei der Materie an.
Der Begriff der Materie ist nicht einfacher. Und er ist schon lange nicht mehr, was er einmal war. Schopenhauers genial vereinfachender Satz: „Die Welt ist meine Vorstellung“ hat an Überzeugungskraft zurückgewonnen. Der naive Realismus, der das Geistige nur als „das im Kopf umgesetzte Materielle“ betrachtet, hat zunehmende Schwierigkeiten, zu sagen, was das Materielle sei. Der Begriff beginnt sich aufzulösen. Schon Kant hat einiges dazu beigetragen, aber Konstruktivismus, Neurophilosophie und Systemtheorie erheben jetzt den Anspruch, ihm den Rest geben zu können. Bis vor kurzem waren es die Materialisten, welche die Frage, ob das Wesen der Welt ideell oder materiell sei, als Grundfrage der Philosophie betrachteten, um sie dann in ihrem Sinne zu beantworten. Aber jetzt muss zugegeben werden: Weder die hyle, lateinisch materia, das „Bauholz“ der vorsokratischen Naturphilosophen, noch Lenins „objektive Realität“ lässt sich ohne zusätzlichen Rechtfertigungsaufwand als Definition von Materie halten.
Das trifft nicht nur den traditionellen materialistischen Monismus. Die in Mode gekommene esoterische, aber nicht weniger monistische Auffassung, die mit dem Begriff der Feinstofflichkeit hantiert, gerät dadurch ebenfalls ins Wanken. Es ist nebenbei logisch unbefriedigend, wenn das von den res extensae zu Unterscheidende – der ausdehnungslose „Geist“ – dann doch unter die ausgedehnten Dinge eingereiht werden soll, und sei die Ausdehnung auch noch so gering.
Besteht man auf dem Unterschied und hält sich an die bekannten dualistischen Vorstellungen, so hat man das Problem der Verdoppelung der Welt am Hals: Warum muss es alles zweimal geben – einmal als Urbild und dann wiederum als Abbild? Dass in den Registraturen des platonischen Ideenhimmels die immateriellen Blaupausen der Dinge abgelegt sind, ist eine faszinierende metaphysische Großmetapher. Aber sie wird erst wieder brauchbar, wenn man sie gleichsam exterritorial anwendet. Etwa handlungstheoretisch als Illustration der Beziehung zwischen Entwurf und Ausführung. Die Frage ist also auch hier: Haben Sie es nicht ein bisschen kleiner?
Wenn Geist andererseits – wiederum metaphysisch – das Element sein soll, in dem alles zu sich selbst kommt, verlagert man damit nur das Problem. Es besteht unabhängig davon, ob man wie bei Platon an eine zeitlose Struktur oder wie bei Hegel an einen prozessualen Ablauf denkt. Am Ende des Prozesses darf mit Blick auf die zurückliegende überwundene Epoche der materiellen Selbstentfremdung des Geistes gefragt werden: Wozu der Lärm? Wieso ist nicht alles, was ist, schon eben dadurch bei sich?
Weder führt es weiter, Geist als eine sei es noch so feinstoffliche Form von Materie zu erklären, noch hilft es, sich auf den Geist als das entwicklungsgeschichtlich emergente wahre Wesen der materiellen Dinge zu berufen. Allein die unaufhebbare Konkurrenz beider Auffassungen muss uns zu einer ernüchternden Einsicht bewegen: Geist ist kein klarer Begriff. Es ist genau der Begriff, an dessen Unbestimmbarkeit jede Metaphysik scheitern muss. Und was das Eine ist, das übrig bleibt, wenn man den Dualismus im Ordner der erledigten Fälle abgeheftet hat, weiß keiner zu sagen.
Ist der Begriff des Geistes darum vollkommen unbrauchbar? Es deutete sich bereits an: Geist ist eine Metapher. Es liegt ihr die cartesianische Vorstellung vom „Gespenst in der Maschine“ zugrunde. Sie ist ontologisch überholt, aber damit funktional noch lange nicht diskreditiert. Am besten lässt sich das am Beispiel des im 18. Jahrhundert üblichen Sprachgebrauch zeigen: Geist war etwas, das man hatte – oder auch nicht. Die deutsche Übersetzung des französischen Worts esprit war bezeichnenderweise „Witz“. Etymologisch hat das mit Wissen zu tun. Wer Witz hatte, zeichnete sich durch eine rasche Auffassungsgabe und ein wohlorganisiertes Kombinationsvermögen aus. Dieses war wiederum an Kenntnisse gebunden, über die in origineller Weise verfügt werden konnte. Das Ergebnis durfte man dann nicht selten im heutigen Sinne witzig finden. Man bediente sich dabei eines Stils, der auch das Schwierige leicht daherkommen ließ.
Wer Geist hatte, durfte nicht als der Herakles der großen Arbeiten oder als Berserker erscheinen. Das wäre nicht elegant gewesen. Man orientierte sich vielmehr am Idealbild des seltenen Glückskinds, dem die Dinge zuflogen. Von da ist es nicht weit zu einer Neuauflage des Begriffs der Inspiration, der das Produkt des Gewitzigten mit einem Geheimnis umgibt. Das nachdrückliche Beharren auf diesem Geheimnis ließ den Geniekult der Stürmer und Dränger und die Ekstasen der Romantiker dann zu einer vergleichsweise lautstarken Angelegenheit werden, auch wenn man vorgeblich die Zustimmung der „Stillen im Lande“ suchte. Mit neuer Emphase machte man sich die platonische Sicht auf den Wahnsinn als heilige Macht zu eigen. Der Genius, der dem zu schöpferischem Tun bestimmten Menschen in die Knochen fährt, ist wiederum ein Geist. Aber er ist ein Erklärungsprinzip, das an die Stelle einer Erklärung gesetzt wird, ohne wirklich etwas zu erklären: Ein Werk ist genial, weil sein Schöpfer ein Genie ist. Und der ist ein Genie durch Inspiration. Inspiration gilt ihrerseits wiederum als geistiger Vorgang. Aber Geist ist etwas, das sich erst in der Kommunikation als Qualität des Inspirierten erweist. Wenn man ihn als Produkt dieser Kommunikation betrachtet, verwandelt sich das Geheimnis des Genies in die schwer durchschaubare Komplexität einer situativ gegebenen Struktur.
Die Einsicht, dass der Geist keine Substanz, sondern ein Produkt ist, kann an die Praktiken vergangener Epochen anknüpfen, in denen die „geistige“ Produktion nur als eine regelgeleitete gedacht werden konnte. Dass Inspiration an Transpiration, an nach prozeduralen Prinzipien organisierte Arbeit gebunden ist, darf seit ungefähr zweieinhalb Jahrhunderten nicht mehr sichtbar werden. Dieses Verwischen der Spuren durch unsere geistreichen Ahnen ist vermutlich dafür mitverantwortlich, dass uns – um mit Wittgenstein zu sprechen – ein Bild gefangen hält. Es bewirkt eine falsche Wahrnehmung des so genannten Leib-Seele-Problems. Sie besteht darin, dass wir die Terminologie allzu wörtlich nehmen und das Untersuchungsobjekt der wissenschaftlichen Psychologie – die Psyche, den als Ausgangspunkt unseres Handelns und Verhaltens gedachten Ort unseres inneren Erlebens – mit etwas Unbestimmbarem aufladen, dem wir dann auch noch zu allem Überfluss eine selbständige „geistige“ Existenz zusprechen.
Währenddessen sind aber Träger- und Speichermedien der psychischen Prozesse im Hirn, in der Sprache, in der Schrift, in Tönen, in Noten und in ikonischen Formen aller Art „materiell“ fassbar, jedenfalls können sie – um es diplomatischer auszudrücken – als solche der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich gemacht werden. Und immer sind es neuronale Vorgänge, sind es die feuernden Synapsen, durch die graphische oder ikonische Konserven aufgetaut und komplexe akustische oder visuelle Signale digitalisiert werden. Wenn wir also von einem geistigen Kontakt sprechen, so kann nur etwas Vermitteltes gemeint sein. Die Vorstellung, dass Geist zu Geist unmittelbar spricht, muss verworfen werden. Es gibt immer ein Medium.
Wenn wir den Geist im Medium – einem „Mittel“ – suchen, stoßen wir auf ein Vermittelndes. Das ist weniger etwas in den Menschen als etwas „in der Mitte“ – zwischen ihnen. Ein Beispiel: Lindbergh taufte sein Flugzeug auf den Namen „Spirit of St. Louis“. Er wollte damit den Bürgern dieser Stadt, der er viel verdankte, ein Kompliment machen. Mit seiner Namensgebung zielte er auf etwas Überindividuelles, eine Haltung, eine Einstellung, eine alle verbindende Mentalität, die keinesfalls als etwas Angeborenes oder – bildlich gesprochen – etwas im Sinne einer Urzeugung Eingehauchtes zu verstehen ist. Der Geist, der die Menschen von St. Louis angeblich beseelte, wäre also als eine Art spezifischer Sozialcharakter zu fassen und damit entmystifiziert: als Produkt kommunikativer Prozesse.
Es kann endlich nach allen Entmystifizierungen in einem gewissen Sinne immer noch mit vollem Recht von einer „Welt des Geistes“ die Rede sein. Wer sich in ihr bewegt, wendet sich den Hervorbringungen der in der oben genannten Bedeutung „Geistreichen“ zu, auf jeden Fall aber den Medien, in denen solche Produkte Gestalt annehmen. Nun sind Worte wie „Geist“ und „geistig“ als etwas die menschliche Spezies Auszeichnendes immer noch mit Wertungen verbunden. Derartige Wertungen müssen nicht aufgegeben werden. Es handelt sich bei „geistigen Gegenständen“ um etwas, das nur in menschlichen Kommunikationsprozessen transportiert werden kann. Und die Länge der Transportwege in Zeit und Raum ist einzigartig. Die Voraussetzung für diesen Transport ist mithin Haltbarkeit: Es darf unterwegs möglichst nichts verloren gehen. Das erfordert überindividuelle Anstrengung, synchronischer wie diachronischer Art, die ständige Auseinandersetzung der Produzenten und Rezipienten mit Konvention und Tradition. Das Erzeugen von Haltbarem ist gesellschaftliche Arbeit im Spannungsfeld des Machens und Anerkennens. Haltbar im Sinne einer Zugehörigkeit zur „Welt des Geistes“ ist, was über einen langen Zeitraum hinweg Anerkennung zu finden verdient .
Haltbar sind außerhalb der Kunst wohlbegründete Aussagen oder Systeme solcher Aussagen. Solche Aussagen sind nicht flüchtig; sie lassen hinsichtlich ihrer Deutung zwar Spielräume zu, aber wenn ihre Gründe in ausreichendem Maße zugänglich gemacht wurden, schließen sie Beliebigkeit aus. Voraussetzung ist die „Anstrengung des Begriffs“, das Bemühen um begriffliche Klarheit. Die fehlt offensichtlich denen, die es allzu sehr mit der Spiritualität haben. Ihr an süßlicher Erbaulichkeit orientierter Sprachgebrauch nährt den Verdacht, dass Spiritualität nicht geistreich ist.