Gegenüber der Ermekeilkaserne in der Bonner Südstadt befand sich in den siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine Bäckerei. Der Bäcker hieß Lothar Leidigkeit. Wie alle Namen auf -eit und -at ein ostpreußischer Name. Man denkt leicht an die ländlich-schwerfällige Wesensart der Figuren in den Geschichten von Siegfried Lenz oder an den sperrigen Dialekteinschlag, mit dem der Schauspieler Paul Wegener in alten Filmen auftrat. Aber einen Vertreter dieses bodenständigen Typs zu erwarten führt in die Irre. Und der Name war, wie sich herausstellte, ein sprechender Name. Nicht dass sein Träger besonders gelitten hätte, nein, der Mann war – so könnte man es ausdrücken – „leidig“.
Ich lernte ihn kennen, als ich wieder mal auf der Suche nach einer Bleibe war. In den frühen Siebzigern kündigten die Bonner Vermieter oft den Studenten, die bei ihnen wohnten, wenn sie mit deren Liebesleben nicht einverstanden waren. Und ich war – nicht zum ersten Mal – aus meinem Zimmer geflogen. So war ich erst einmal froh, als ich im Schaufenster des besagten Leidigkeit ein kleines pappenes Kuchentablett mit der Aufschrift „Zimmer zu vermieten“ sichtete. Erleichtert war ich dann auch, als er bei der Zimmerbesichtigung erklärte: „Wenn Sie ein Mädchen mit aufs Zimmer bringen – mein Name ist Hase.“ Er hatte ein ostpreußisches R, sprach aber nicht, wie eigentlich erwartet, dörflich-gravitätisch, sondern mit der quirligen Hast eines windigen Handelsvertreters. Ein hässlicher mittelgroßer kahlköpfiger Mann Ende dreißig mit noch kleinem Embonpoint.
Ich erfreute mich nicht lange seiner vermeintlichen Großzügigkeit. Ich kaufte mein Brot oft woanders, weil das bei ihm gekaufte manchmal schimmelig gewesen war. Und weil ich das enge und wenig komfortable Dachzimmer, das kaum mehr als eine bessere Abstellkammer war, seltener nutzte als ursprünglich geplant, fand er einen Vorwand, mir zu kündigen. Aber er erklärte, er könne mir Ersatz besorgen. Bei einer Nachbarin sei ein Zimmer frei. Sie wohne in der Seitenstraße schräg gegenüber der Backstube. Ich klingelte bei ihr, und eine schon recht alte Dame öffnete. Als ich mein Anliegen vorbrachte, wurde sie sehr ärgerlich. Sie hatte kein Zimmer zu vermieten, aber Leidigkeit schickte ihr aus alter Feindschaft immer wieder Studenten, die eines suchten, und war dabei, ihr damit die Nerven zu ruinieren. Der Mann hatte anscheinend einen mehr als gewöhnungsbedürftigen Humor.
Nach mir bezog eine Kommilitonin das Zimmer. Als ich sie kurz nach meinem Umzug auf der Straße traf, berichtete sie mir, dass Leidigkeit ihr nachstelle. Sie habe schon wieder gekündigt. Frau Leidigkeit, eine freundliche, etwas korpulente Person mit dicken Brillengläsern, schien auf ihren Ehemann keine große Anziehungskraft mehr auszuüben. Auf jeden Fall genügte sie seinem Appetit nicht. Zu Leidigkeit konnte man ihr nicht gratulieren.
Sie wurde aber dann doch noch Mutter. Weil ich sie mochte, war ich der Bäckerei Leidigkeit als gelegentlicher Kunde erhalten geblieben, nachdem ich bei Eintritt ins Berufsleben eine Wohnung gleich um die Ecke bezogen hatte. Dass Frau Leidigkeit schwanger gewesen war, war mir gar nicht aufgefallen. Eines Tages wies sie, als ich nicht genau wusste, was ich an ihr verändert finden sollte, lächelnd auf ihre immer noch nicht eben schmale Taille und sagte: „Ich bin dünner geworden.“ Anders als ihr Mann konnte sie anscheinend Dinge mit dezenter Indirektheit ausdrücken.
Leidigkeits umweglose Direktheit war dagegen mit der Zeit immer weniger zu ignorieren. Man wurde sogar jenseits des Atlantiks auf ihn aufmerksam. Im „Time Magazine“ erschien ein Artikel über ihn mit dem Titel: „And Now: Gingerporn“. Ingwerporno! Was war geschehen? Der Bonner Bäckermeister Lothar Leidigkeit war auf die Idee verfallen, eine rheinische Hefeteigspezialität, den berühmten Weckmann – eigentlich ein Saisongebäck – ganzjährig anzubieten und dessen Aussehen mit einem recht auffälligen neuen Design zu versehen: Die Figuren erhielten Geschlechtsmerkmale in bemerkenswerter Größe. Die das Angebot neuartig erweiternde Erfindung von „Weckfrauen“, folgte nicht etwa irgendeinem Sparzwang, weil die sonst unverzichtbare Tonpfeife fehlte. Nein, diese recht spezielle Backwarenreform zielte wohl ganz unverwandt auf das Personal der gegenüberliegenden Ermekeilkaserne. Leidigkeit unterstellte den Wachsoldaten und den Beamten der dort untergebrachten Außenstelle des Verteidigungsministeriums einen Geschmack, der sich durch Brauchtum, Duft oder Zungenreize nicht vom Wesentlichen ablenken ließ.
Es mag sich um eine Verzweiflungstat gehandelt haben. Aber die Kalkulation ging erst einmal auf. Sogar ein Kollege, mit dem ich eine Fahrgemeinschaft bildete und der mich vor dem Eckhaus, in dem sich die Bäckerei befand, abzusetzen pflegte, ließ sich, als er im Schaufenster der ungewohnten Attraktion ansichtig wurde, dazu hinreißen, gleich ein „Weckpaar“ zu erwerben. Ich stellte mir die vorhersehbare Reaktion seiner Frau vor, die den leicht faunischen Zug im Charakter meines Kollegen wenig schätzte. Der Enttabuisierungsschub der „sexuellen Befreiung“ lag inzwischen ein Jahrzehnt zurück. Selbst Männer hatten – nicht unbeeinflusst durch Aktionen von Leserinnen von Zeitschriften wie „Emma“ und „Courage“ – in diesen Fragen begonnen, ein wenig zurückzurudern. Darum war ich von dem Entzücken meines Kollegen über die Entdeckung der vermeintlich so originellen Hefeteigfiguren peinlich berührt.
Noch weniger begeistert war die Bäckerinnung. Sie drohte Leidigkeit, wie die Lokalpresse berichtete, mit Ausschluss. Er ließ sich davon nicht beeindrucken. Ich höre ihn noch, an der Straßenecke von einigen Stammgästen der umliegenden Kneipen umringt, in der für ihn typischen wuseligen Art brabbeln: „Ich mach nur noch Sex.“ Für einen Teil der Öffentlichkeit, besonders für die Kampftrinker des Viertels, scheint er damals so etwas wie ein Held gewesen zu sein, einer der sich mutig dem organisierten Spießertum entgegenstellte.
Ich hatte meine Gründe, das anders zu sehen: Der Bäckermeister schlug seine Frau. Sie fand an der Rolle der Ehegattin eines so zweifelhaften Helden übrigens keinen Gefallen. Und die Gerüchte über häusliche Gewalt entsprachen der Wahrheit; ich selbst fand die Bäckerin einmal hinter der Ladentheke mit einem blauen Auge und einem zerbrochenen Brillenglas vor. Leidigkeit schlug seine Frau wohl vor allem, weil sie sich schützend vor das gemeinsame Söhnchen stellte. Die Zustände im Hause Leidigkeit hatten nämlich dafür gesorgt, dass der Kleine zum Bettnässer geworden war. Der Familienvorstand wurde darob vollends zum Wüterich. Im Zeitungsladen nebenan erfuhren die Kunden davon. In den Treppenhäusern tuschelten die Nachbarn. In den zahlreichen Kneipen des Viertels wurde der Fall am Tresen verhandelt. Der weltbekannte „Sexbäcker“ wurde zum Stadtteilmonster. Dem Absatz der von einem Teil seiner männlichen Kundschaft bevorzugten Produkte tat dies vorläufig keinen Abbruch. Andere Kunden blieben jedoch weg.
Frau Leidigkeit ertrug den Zustand nicht mehr. Ohne den Jungen verließ sie eines Nachts das Haus. Sie schien keine andere Wahl gehabt zu haben. So blieb das Kind beim Vater als eine Art Geisel. In der Nachbarschaft erörterte man die verbleibenden Möglichkeiten einer Befreiung. Die Justiz einzuschalten würde länger dauern, als dem Jungen zumutbar gewesen wäre. Und zur Wohnung hatte niemand Zutritt.
Es war Frau Leidigkeit, die erneut die Initiative ergriff. Sie wartete von ihrem Peiniger unbemerkt und unter dem Schutz des Wirts in der benachbarten Kneipe, bis gegen Mittag wie je-den Tag ihr kleiner Sohn erschien, um im Auftrag seines Vaters die täglich anfallende hochprozentige Nassverpflegung abzuholen. Der Auftrag blieb unerfüllt. An der Hand seiner Mutter bestieg der kleine Leidigkeit ein wartendes Taxi und beide wurden nicht mehr gesehen. Die Frau des Bäckers hatte mit dem Manöver Kopf und Kragen riskiert. Und gewonnen.
Leidigkeit wurde aus der Innung geworfen und musste schließen. General-Anzeiger, Rundschau und Express berichteten darüber. Für das „Time Magazine“ dürfte der Fall nicht mehr interessant gewesen sein. Aus neuen Plänen, die Berichten zufolge alles Bisherige noch in den Schatten stellen sollten, wurde nichts. Zum letzten Mal traf ich ihn vor der Stadt auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Er hatte Beschäftigung in einer Brotfabrik gefunden, wartete aber, wie er sagte, auf die Gelegenheit zu einem Neustart. Als Sexbäcker, was sonst? Vielleicht auf Mallorca…
Das wäre eigentlich das Ende der Geschichte. Aber es bleibt mir noch etwas nachzutragen: Ein oder zwei Jahre vor der Schließung der Bäckerei kam ich an einem heißen Nachmittag an der zur Straße hin geöffneten Backstubentür vorbei. Drinnen hörte ich den Bäcker reden. Er bramarbasierte lautstark und ließ seinen Gesprächspartner nicht zu Wort kommen. Ich blieb für einen Moment stehen. Was ich zu hören bekam, war unerträglicher rechtsradikaler Müll: Der Nation gehöre die Zukunft, die Artfremden und Fremdrassigen hätten zu verschwinden, ein starker Mann, ein Führer müsse her … – Ich schüttelte mich und ging weiter.
Man könnte mir vorwerfen, ich hätte mit diesem Schluss ein allzu rundes Porträt, ein Charakterbild ohne alle Brüche gezeichnet und ein schwer ideologielastiges Klischee produziert. Es wäre doch einfach zu viel, nun auch noch dieses makabre Pünktchen auf das hässliche I zu setzen. Aber zu meiner Entlastung kann ich nur sagen: Ich habe nichts erfunden.