Archiv für Februar 2009

Ratio

Montag, 23. Februar 2009

Ratio ist verdichtete Emotion

Alexander Kluge

In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war über dem Eingang eines Kompanieblocks der in der Nähe des Städtchens Kastellaun gelegenen Hunsrück-Kaserne der Spruch zu lesen: „Eine Armee ist soviel wert wie die Sache, der sie dient.“ Zu diesem Satz schien es schlecht zu passen, dass die Wände der oberen Flure des Nachbarblocks mit den Porträts von Nazigenerälen dekoriert waren. Der Kompaniechef pries offensiv die militärischen Tugenden der Abgebildeten. Diese seien lediglich missbraucht worden.

Man darf nun fragen, ob hier wirklich ein Widerspruch zwischen einem neutralen Werkzeug und einem verabscheuungswürdigen Zweck bestand. Einiges spricht dafür, dass die militärische Organisation ihrem Wesen nach ein solches Ausmaß an Absurdität und menschlicher Rohheit entbindet, dass die Verbrechen des Naziregimes zu einem großen Teil der ausschließlich technisch bestimmten militärischen Logik zugerechnet werden können.

Damit würde der Wert einer Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck relativiert. Es ist, als gehörte mit der Entwicklung des Insektizids Zyklon B der Einsatz gegen Menschen schon automatisch zu dessen Programm. Zielgerichtete Rationalität erwiese sich so als ein Bumerang, der den Werfer trifft. Träfe er einmal das vom Werfer anvisierte Ziel, so wäre das lediglich die Nebenwirkung eines von Anbeginn verfluchten Geräts.

Kant hat – Aristoteles präzisierend – streng zwischen Technik und Praxis unterschieden. Für die Praxis fordert er: Die gesetzmäßige Verallgemeinerbarkeit einer Maxime soll die entsprechende Handlung moralisch legitimieren. Der so gefasste Imperativ soll unbedingt, kategorisch gelten. Darüber wacht die praktische Vernunft.

Der unbedingt geltende praktische Imperativ bezieht sich auf die Handlung als ganze, als eine Einheit von Zweck und Mittel. Noch der junge Marx erinnert daran, dass kein Zweck heilig ist, der unheiliger Mittel bedarf. Der technische Imperativ hingegen gilt nur bedingt, hypothetisch. Gefragt wird lediglich nach der Eignung eines Mittels für einen beliebigen Zweck. Ob Insekten oder Menschen getötet werden sollen, ist für den Produzenten von Zyklon B gleichgültig, wenn der Abnehmer zahlt. Ob ein Krieg ein Vernichtungskrieg ist, spielt für den keine Rolle, der nur im Sinn hat, Schlachten zu gewinnen. Für ihn hat die praktische Vernunft abgedankt.

Eine solche Demissionierung war schon im neunzehnten Jahrhundert behauptet worden. Im Zuge der als Vernunftkritik deklarierten Attacken auf Aufklärung und kritische Rationalität hat man sich seither angewöhnt, die Differenz von Praxis und Technik zu ignorieren. So ist etwa für Nietzsche die Vernunft nur mehr ein Werkzeug irrationaler Willensregungen, für das keine anderen Imperative als hypothetische mehr gelten können. Damit tritt an die Stelle der Anerkennung der Autonomie des Anderen die Philosophie des Verdachts.

Gegenstand des Verdachts ist aber nun nicht mehr einfach ein bloßer Wille, der sich hinter Vernunftgründen versteckt; verdächtig ist die den Willen verfälschende und deformierende Vernunft selbst, denn sie lässt jenen nicht mehr zu seinem unhinterfragbaren Recht kommen. Der „Richtstuhl der Vernunft“, vor dem sich bei Kant die Maxime des Willens noch zu rechtfertigen hatte, ist abgebaut. Das, worauf sich einmal der „gute Wille“ gründen sollte, wird nun selbst zu einer Art bösem Prinzip.

Sinnfällig wird das vor allem für die in der Tradition der Lebensphilosophie stehenden Denker in Gestalt der problematischen bis verheerenden Auswirkungen der Technik. Sie ist keiner Kontrollmacht mehr verpflichtet und hat sich ihnen zufolge von den körperlichen und seelischen Daseinsbedingungen der menschlichen Art gelöst. Für die von ihr angerichteten Schäden wird nun das rücksichtlose Walten der Rationalität verantwortlich gemacht; sie operiere, so heißt es, notwendigerweise einseitig, d. h. mit Unterscheidungen, also „Diskriminierungen“ und könne folglich keine anderen Entscheidungen begründen als solche, die unvermeidlich Exklusionen bedeuten. Etwas anderes, als lebensfeindliche Eingriffe in natürliche Abläufe ins Werk zu setzen, sei ihr überhaupt nicht möglich. Eine als rein technisch verstandene Rationalität wird so zum Inbegriff einer finsteren Macht gestempelt.

Diese Argumentationsweise scheint ein ehrwürdiges Alter zu haben. Sie findet sich nach Ansicht mancher Kulturkritiker schon bei Dschuang Dsi:

„Wenn einer Maschinen benützt, so betreibt er all seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiss in den Regungen des Geistes. Ungewissheit in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren Sinne nicht verträgt.“

Nimmt man diese Gedankenkette wörtlicher, als sie wahrscheinlich gemeint ist, so beschreibt sie eine Fatalität. Für eine Spezies, die nach Arnold Gehlen „von Natur auf Kultur angewiesen“ ist, ohne Werkzeuggebrauch und damit auch ohne irgendeine Form der zielbewussten Ausnutzung kausaler Strukturen nicht auskommt, könnte die Ergebung in den „wahren Sinn“, in das Tao, nur auf die Auslöschung hinauslaufen.

Eine solche Konsequenz lässt sich vermeiden, wenn man auf der oben genannten Kantischen Unterscheidung besteht. Mit der Prägung des Begriffs der instrumentellen Vernunft bezieht sich Max Horkheimer wieder auf die alte Differenz von Praxis und Technik. Damit schafft er eine theoretische Voraussetzung, den Gebrauch des Werkzeugs Rationalität kritisch zu beurteilen, statt es der eigenen fatalen Logik oder dem Wüten einer von dieser schon befallenen Psyche zu überantworten.

Kann aber der dem Verdikt über eine auf das Instrumentelle reduzierten Vernunft zugrunde liegende Maßstab noch derselbe sein? Kann es genügen, den Kantischen Begriff der praktischen Vernunft wieder ins Recht zu setzen? Nicht nur wer Aufklärung am Leitfaden des Märchens der Großmutter aus Büchners „Woyzeck“ als Prozess der Sinnentleerung des Universums zu interpretieren geneigt ist, wird sich auf eine derart simple Reparatur nicht einlassen. Nur aus der Aufklärung der Aufklärung über sich selbst (und nicht aus ihrem Verschwinden in ihrer eigenen „Abklärung“) lässt sich ein tragfähiger Begriff der Praktischen Vernunft entwickeln.

Spätestens seit Adolf Eichmann sich zu seiner Verteidigung auf seine Kant-Lektüre  berief, hat sich ein Ungenügen am Formalismus der Kantischen Pflichtethik ausgebreitet. Selbst der praktische Imperativ, „die Menschheit“ sowohl in der eigenen Person „als in der Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ zu brauchen, enthält Einschränkungen. Darum können sogar Ausschlüsse inhumanster Art mit dieser Formel des kategorischen Imperativs nicht grundsätzlich blockiert werden. Es wird Zeit, zuzugeben, dass praktische Vernunft auf Voraussetzungen beruht, die selbst nicht vernünftig sind.

Mancher sähe sich nun veranlasst, Saint-Exupéry zu zitieren: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Aber das ist ein Spruch fürs Poesiealbum und noch dazu einer der dümmsten. Saint-Exupéry scheint allen Ernstes zu behaupten, dass die Emotion das dem Intellekt überlegene Erkenntnisorgan sei. Denn der Nachsatz entschlüsselt das Sehen als Metapher für Erkenntnis. Um im Bilde zu bleiben: Der eine sieht dies, der andere sieht das. Wer sagt, wer das Richtige sieht? Das Herz? Wessen Herz? Wer immer noch nicht merkt, dass er sich verrannt hat, wird nun erklären, dass nur ein gutes Herz wirklich ein Herz sei. Das ist nicht nur absurd, sondern in letzter Instanz auch inhuman, denn es führt zu den gerade von den Vertretern eines intellektfreien Emotivismus perhorreszierten Exklusionen.

Vor dem Eintritt in diese Sackgasse kann also nur gewarnt werden. Auf der scheinbar naiven Frage, ob es nicht doch so etwas gibt wie einen „rechten Weg“ ist nichtsdestoweniger zu bestehen. Beispiele des unzweifelhaft moralisch Richtigen mögen nicht einmal besonders zahlreich sein. Die Ansicht, dass es sie gibt, wird indessen immer wieder durch deren unmittelbare emotionale Überzeugungskraft gestützt. Die Analyse des nun folgenden Beispiels zeigt aber, dass das vor der genannten Sackgasse aufgestellte Schild nicht entfernt werden muss, sofern es gelingt, dabei die Rolle der Gefühle bei der moralischen Urteilsfindung ein wenig genauer zu bestimmen.

Irgendwann während des zweiten Weltkriegs wurde am Rande einer deutschen Kleinstadt eine Frau durch einen Stacheldrahtzaun hindurch von einem halbverhungerten russischen Kriegsgefangenen angesprochen. Er sagte nur ein Wort, vielleicht das einzige deutsche Wort, das er kannte: „Brot.“ Die Frau kam gerade vom Bäcker. Sie sah sich vorsichtig nach allen Seiten um und legte dann das Brot, das sie zuvor gegen wertvolle Lebensmittelmarken eingetauscht hatte, so unauffällig wie möglich auf einen Zaunpfahl. Zu Hause gab es für die Familie dann etwas weniger zu essen. Was zu tun war, sagte der Frau, wie es zunächst scheint, ihr Herz. Wie es zu tun war, nämlich nicht ohne sich umzusehen, ihr Verstand.

Die Vorsichtsmaßnahme mag manchem als eine Art Instinkthandlung durchgehen. Aber Umsicht ist Resultat erlernter Einsichtsfähigkeit. Die Gefühle, die in dieser Situation ausschlaggebend waren, hätten die Frau während der Naziherrschaft unter das Fallbeil bringen können, wenn sie ihnen unvorsichtig gefolgt wäre. Aber sie war überzeugt, dass sie ihr das Richtige sagten und dass das Risiko auch im Nachhinein vertretbar war. Was sie tat, um das Risiko zu minimieren, verhält sich zum Handlungszweck auf unproblematische Weise instrumentell. Auf der anderen Seite wird der Wille, so und nicht anders zu handeln und das entsprechende Risiko einzugehen, je nach Person und Zeitumständen unterschiedlich bewertet. Die Bewertungen mögen stark emotional gefärbt sein, aber es wird unter normalen Umständen immer nach Gründen gefragt, die von Menschen unterschiedlicher emotionaler Verfassung akzeptiert werden können.

Zur Debatte steht die Überzeugungskraft von Argumenten, welche die moralische Richtigkeit von Handlungen behaupten, zu denen bestimmte Gefühlszustände Anlass geben. Gefühle geben uns zu denken und Gedanken, deren Tragweite wir denkend ermessen können, haben mitunter die rückwirkende Fähigkeit, unsere Gefühle zu verändern. Die Frau aus unserem Beispiel befand sich in der geschilderten Situation gleichzeitig in zwei einander widersprechenden moralischen Kontexten, dem ihrer individuellen lebensgeschichtlichen Prägungen und dem der herrschenden Ideologie. Die Entscheidung fiel schnell, aber an ihr wirkten die jahrzehntelang in der Öffentlichkeit geführten Auseinandersetzungen mit. Diese sind immer auch auf diskursiv darstellbare Strukturen zurückzuführen. Die Ergebnisse jener Auseinandersetzungen mussten weder vollständig bewusst sein noch mussten sie für eine Entscheidung eigens abgerufen werden; sie hatten sich in einer bestimmten Weise im Innern abgelagert. Die scheinbar rein emotional bestimmte Handlung war auch Resultat solcher Ablagerungsprozesse.

Praktische Vernunft entsteht nicht im Monolog des Denkenden. Sie kann nur etwas in gesellschaftlicher Kommunikation Hergestelltes sein. Diese findet immer unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen statt. Die Marxsche Auffassung des Individuums als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ drückt genau das aus. Angesichts des Wandels solcher Verhältnisse ist es schwierig, in der geschichtlichen Entwicklung Konstanten zu entdecken, die auf eine sich immer gleich bleibende Vernunft schließen lassen. Die humanistische Hoffnung richtet sich hier auf einen Kern, der einem rationalen Konsens zugänglich wäre. Ob einen solchen unwandelbaren Kern gibt oder nicht: Die Idee einer Praxis, welche die Technik nicht sich selbst überlässt, kann bei Strafe des Untergangs nicht aufgegeben werden. Wir müssen uns rational über Praxis verständigen, und das heißt auch darüber, welchen Gefühlen wir Raum geben sollen oder dürfen, um nicht dem Untergang zu verfallen.

Kommunikation ist nie rein emotional, denn die Sprache erfordert – wie jedes andere Medium auch – die wiederholbare Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung und damit eine intellektuelle Disziplin, die es nicht gestattet, sich ausschließlich durch Grunzen oder Keulenschläge zu verständigen. Letzteres wäre ein Verstoß gegen vernünftige Kommunikationsregeln, der natürlich auch emotional registriert wird. Um die Wiederholung eines solchen Verstoßes nachhaltig zu verhindern, sind aber vor allem Einsichten und Absprachen erforderlich. Das im Anschluss daran notwendige Motiv, beispielsweise Verträge einzuhalten, gewinnen wir am allerwenigsten aus unserem Gefühlshaushalt, denn Verträge beruhen gerade nicht auf der wechselseitigen Anerkennung der Liebenswürdigkeit der Vertragspartner. Verträge auszuhandeln erfordert aber gleichermaßen intellektuelle wie emotionale Leistungen; Wohlwollen kann man nicht ohne Gefühlsbezeugungen ausdrücken. Wenn wir vorläufig annehmen, dass sich praktische Vernunft als eine Art begrenzt revidierbarer Vertragsinhalt vergegenständlicht, können wir sagen: Gefühle haben am Aufbau einer Instanz, die man als praktische Vernunft bezeichnen kann, einen bedeutenden Anteil. Dass sie – sieht man von anderen Leistungen ab – zumindest eine Stufe im Erkenntnisprozess bilden, wird man nicht bestreiten können.

Mehr noch: Was rationalen Operationen an Unbewusstem vorausgeht, kann insofern in hohem Maße intelligent sein, als es geeignet sein kann, Probleme zu lösen. Wenn solche Lösungen moralischen Maßstäben genügen, haben die entsprechenden Vorgänge ihren nicht zu unterschätzenden Anteil an praktischer Vernunft. In diesem Sinne kann man von einer Vernunft der Gefühle sprechen. Es gibt nur keine anderen Maßstäbe als die rationalen, um jene Art der Vernunft nachträglich als solche zu beurteilen. Dieses Urteil rekurriert dann auf überindividuelle Strukturen, die in Form lebensgeschichtlicher Prägungen erworben wurden. Der hierzu erforderliche Begründungszusammenhang darf dann aber nicht einer beliebigen emotionalen Verfassung unterworfen sein, wenn er intersubjektiv gelten soll. Aus diesen Überlegungen lässt sich sowohl auf den Umfang eines so bestimmten Begriffs der Vernunft schließen als auch auf den Rang, den er allen Anfeindungen zum Trotz weiterhin einnimmt. Der in einer bestimmten subkulturellen Szene verbreitete Glaube, Emotionen könnten Vernunft ersetzen, ist jedenfalls ein Irrtum. Es sind dessen Anhänger, die auf einem unversöhnlichen Gegensatz bestehen. Das ist nun wirklich nicht vernünftig.

Nachbemerkung:
Die Frau in der geschilderten Episode war meine Großmutter Elisabeth Ludwig, geboren 1882, gestorben 1977.