Archiv für Juni 2014

What Rules?

Donnerstag, 19. Juni 2014

Den Vornamen habe ich vergessen. Sein Familienname war Hollingsworth, aber er zog es vor, mit „Holly“ angeredet zu werden. Seine Bekanntschaft machte ich im Sommer 1982 in einem Städtchen namens Chard in der englischen Grafschaft Somerset. Ich war auf der Durchreise.

Mein Leben hatte durch den endgültigen Bruch einer langjährigen Beziehung einen Einschnitt erfahren. Danach hatte ich das Bedürfnis, mein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen, indem ich die durchlittene Lebensphase rituell abschloss. Ich war mit etwas an ein Ende gekommen, und so verfiel ich auf die Idee, im Sommer an die äußerste Westspitze Cornwalls zu fahren und die emotionale Last der überstandenen Jahre bei Kap Land’s End symbolisch dem Atlantik zu übergeben.

Meine Geldmittel waren infolge der Turbulenzen der strapaziösen Partnerschaft erschöpft. Daher zog ich, obwohl ich seit ein paar Jahren beruflich etabliert war, mit Zelt und Rucksack los. Die englische Strecke bis zu meinem Ziel wollte ich per Anhalter zurücklegen. Dank der Großzügigkeit der britischen Lastwagenfahrer erwies sich das als keine Schwierigkeit.

Als ich endlich am Rand der Klippe von Land’s End kehrt machte, versuchte ich mir einzubilden, dass mein Gefühlsgepäck die westliche Richtung beibehielt und zum Horizont hin verschwand. Der Urlaub konnte beginnen. Nach kurzem Aufenthalt in Cornwall trat ich den Rückweg an.

Der letzte Lift des ersten Rückreisetages setzte mich in Chard ab. An einer Bushaltestelle erkundigte ich mich bei den Wartenden nach dem nächsten Campingplatz. Zu meinem Schrecken musste ich erfahren, dass der Ort über keinerlei Möglichkeiten verfügte, irgendwo mein Zelt aufzustellen. Ich hatte den Schock noch nicht verdaut, als ich hinter mir eine Stimme vernahm, die mit der typischen südenglischen Färbung fragte: „You wunna ´ave aggummadoishn?“

Ich fuhr herum. Vor mir stand eine wenig Vertrauen erweckende Gestalt. Der Mann war vielleicht etwas jünger als ich, wirkte aber ziemlich verwüstet. T-Shirt, Jeans und Schnürstiefel glänzten nicht gerade durch übertriebene Sauberkeit. Aus den Tätowierungen seiner muskulösen Oberarme war ohne Kenntnis eines speziellen Zeichencodes nicht schlau zu werden. Bevor ich mir über die politische Aussagekraft seines kahl geschorenen Schädels im Klaren war, hatte er seiner Frage, ob ich auf Quartiersuche sei, mehr Nachdruck verliehen; sie konnte nicht mehr anders verstanden werden denn als ein Angebot.

Was dagegen sprach, mochte ich ihm nicht ins Gesicht sagen. Und er hätte seinerseits stichhaltige Argumente vorzubringen gehabt: Man hatte mir ja gerade gesagt, dass ich weder im Städtchen noch in der näheren Umgebung auf eine bezahlbaren Unterkunft hoffen könnte. Die Chance, zu diesem Zeitpunkt noch von hier wegzukommen, war zudem recht gering.

Meine Einwände fielen daher etwas kleinlaut aus. Sie wurden nicht einmal zur Kenntnis genommen. Mein ungebetener Gastgeber griff sich stattdessen meinen Rucksack, den ich für einen Moment abgestellt hatte, und veranlasste mich auf diese Weise unmissverständlich, ihm zu folgen.

Während wir den kurzen Weg zu einem schäbigen frei stehenden Haus zurücklegten, redete er unausgesetzt auf mich ein. Dabei muss er auch seinen Namen genannt haben. Ich verstand ihn sehr schlecht, verzichtete aber darauf, allzu viel nachzufragen. Immerhin bekam ich soviel von seinem Redeschwall mit, dass er nicht lange zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war – es schien sich um Drogendelikte zu handeln – und in jenem Haus kurzerhand ein Zimmer besetzt hatte.

Das Zimmer lag im ersten Stock. Es schien eines „squatters“ würdig, sofern man das Bild akzeptierte, das „tabloids“ wie „The Sun“ oder „The Daily Mail“ von der kleinen britischen Hausbesetzerszene zeichneten. Der Raum war kahl, mit nur wenigen Möbeln, die auf einem mit Papierknäueln und Müllresten übersäten schmutziggrauen Nadelfilzboden großräumig verteilt waren: ein abgestoßener kleiner Tisch, das zerschrammte Wrack eines Sideboards, in einer Ecke eine durchgelegene Matratze mit einem Kleiderbündel darauf.

Auf dem Sideboard lag neben einer über und über bekleckerten Kochplatte ein schwerer, ellenlanger Schraubenschlüssel, der geeignet war, einen Elefantenschädel zu zertrümmern. Wo war ich herein geraten? Ich wandte mich ab, in der vergeblichen Hoffnung, auf Überbleibsel einer gewissen Zivilisiertheit zu stoßen. Aber der Anblick des Gegenstandes, der quer über der Tischplatte lag, hätte auch härter Gesottene als mich die Gesichtsfarbe wechseln lassen. Ich hielt ihn auf den ersten Blick für ein Bajonett, aber es war wohl ein Hirschfänger. Einen Unterschied machte es nicht.

Holly nahm meine Reaktion auf die herumliegenden Mordwerkzeuge nicht zur Kenntnis. Munter bot er mir zu essen an: Aus einem Hängeschrank förderte er ein Packung Toastbrot der Marke „Mother’s Pride“ zutage sowie eine Tüte kaltgewordener Chips. Er packte sie zwischen zwei Toastscheiben und bot mir davon an. Es kränkte ihn nicht, dass ich dankend ablehnte. Er verschwand nach unten und kam mit zwei jungen Nachbarinnen zurück.

Sie waren wohl Studentinnen und hatten ihre Zimmer offiziell gemietet. Holly präsentierte mich ihnen wie eine Trophäe. Er unterbrach die nach der Begrüßung einsetzende Unterhaltung sogleich mit dem Befehl an die Mädchen, für ihn und mich auf der Kochplatte Spaghetti mit Tomatensoße zuzubereiten. Die Packung mit den weltweit verbreiteten Miracoli hatte er aus einem ihrer Zimmer mitgebracht. Wohl aus therapeutischen Erwägungen kamen die beiden dem herrisch artikulierten Ansinnen nach. Die Mischung aus Gleichmut und milder Ironie, die sie dabei an den Tag legten, ließ erkennen, dass sie die Gebrauchsanweisung für Holly kannten.

Sie zogen sich diskret zurück, bevor wir unser Dinner einnahmen. Holly erklärte mir, dass er noch Besuch erwarte: den für ihn zuständigen Bewährungshelfer. Ich fand das sehr beruhigend.

Der Sozialarbeiter erschien bald, in Begleitung seiner Freundin. Bob und Claire, so hießen die beiden, wirkten wie ein Hippiepärchen, wenn auch nicht ganz so bunt. Mit ihrem Klienten pflegten sie einen freundschaftlichen Umgangston. Sie hatten vor, den Abend mit ihm in einem Pub zu verbringen, und luden mich ein, mit ihnen zu kommen. Wir fuhren zu viert in einem von starken Gebrauchsspuren gezeichneten Kleinwagen zu einem Gasthof namens „The King’s Arms“, der etwas außerhalb des Städtchens lag.

Wir holten uns die Getränke an der Bar und nahmen sie mit nach oben in den Billardraum. Das Pärchen trank ebenso wie ich Bier, ich glaube, wir tranken Bitter mittlerer Stärke. Holly trank als einziger Cider. Das bedeutete nicht, dass er sich Harmloserem zugewandt hatte. Der Markenname lautete nicht von ungefähr „Strongbow“.

Bob und Claire hatten einen alten Bekannten getroffen und begannen, sich mit ihm zu unterhalten. Holly näherte sich unterdessen einem Billardtisch, stellte sein Glas ab und nahm spielerisch einen Queue in die Hand. Ich wollte keine peinliche Konversationspause einreißen lassen und fragte, da ich von Snooker keine Ahnung hatte, ob er mir etwas über die Regeln des Spiels sagen könne: „Can you tell me something about the rules?“ Holly schob mit der Seite des Queues lässig eine Kugel ins Loch und fragte zurück: „What rules?“

Allmählich wurde unsere Unterhaltung verbal knapper, aber gestisch reicher. Mir war die Tätowierung auf Hollys Fingerknöcheln aufgefallen, eine etwas kryptische Buchstabenreihe. Ihr Sinn erschloss sich mir jetzt, als er seine Hände verschränkte und sie mir kichernd unter die Nase hielt. Die Buchstaben formierten sich zu dem schlichten Aufforderungssatz: “Let’s fuck.” Für das jetzt allmählich absehbare Versagen der Sprechorgane des Triebstaugeplagten war also vorgesorgt, sollte plötzlich ein hinreichend abgebrühtes Sexualobjekt auftauchen.

Wir blieben nicht mehr allzu lange im Pub, aber die Zeit reichte, um Holly in den Zustand der Volltrunkenheit zu versetzen. Im Auto lallte er etwas von einer Verabredung; der unwahrscheinliche Fall, für den er durch seine Knöcheltätowierung allzeit bereit zu sein behauptete, schien eingetreten zu sein: “I ‘ave a doite with loidy tonoit.”

Bob hielt vor Hollys Haus und winkte mich noch einmal heran, nachdem wir ausgestiegen waren. Während Holly, den Schlüssel suchend, zur Tür torkelte, warnte mich Bob: „Don’t stay with him tonight. If he is drunk his behaviour can be unpredictable.“

Wie vor den Kopf geschlagen sah ich dem Auto nach. Sollte ich darauf hoffen, dass die Sache mit dem Date ihre Richtigkeit hatte? Wann würde er davon zurückkommen? Und in welchem Zustand? Wie konnte ich Holly klarmachen, dass ich nicht scharf darauf war, die Zustände kennenzulernen, in denen sein Verhalten nicht mehr vorhersehbar sein würde? Und wo sollte ich die Nacht über bleiben, wenn nicht in seinem Zimmer, wo mein Rucksack lag, gewissermaßen als Geisel?

Angstvoll und ratlos stieg ich hinter ihm die knarrenden Stufen hinauf. Aber Holly hatte mich nur in sein Zimmer begleiten wollen. Hier drückte er mich voll Rührung an seine Brust, riss sich das T-Shirt vom Leib und forderte mich auf, ein Gleiches zu tun. Wir tauschten die Trikots. Dann verabschiedete er sich mit schwerer Zunge und verschwand treppab, unsicheren Schritts, aber ohne zu stürzen.

An seinem Zustand schien immerhin soviel vorhersagbar zu sein, dass im Falle der Fortsetzung seiner Trinkerei die mit ihm verabredete Dame kaum in den Genuss seiner Manneskraft kommen würde. Die Frage war nur, ob er dann noch in der Lage sein würde, sich zur Rückkehr in sein Domizil aufzurappeln. Das erste konnte meine Sorge nicht sein, wenn mich auch das Rätsel beschäftigte, welches weibliche Wesen in aller Welt die Unwiderstehlichkeit seines Charmes zu würdigen in der Lage war. Das zweite, die Frage, ob ich in dieser Nacht noch mit ihm zu rechnen hätte, gab freilich Anlass zu erheblicher Unruhe.

Ich musste es darauf ankommen lassen. Mit zitternden Händen rollte ich auf dem schmutzigen Fußboden meine Isomatte aus und schickte mich an, in meinen Schlafsack zu kriechen. Die Furcht, irgendwann in den frühen Morgenstunden erleben zu müssen, wie Holly in sein Zimmer hereingepoltert käme, überrascht, mich vorzufinden, weil er längst vergessen hätte, mich aufgenommen zu haben, zornig über den vermeintlichen Eindringling, ließ mich zögern. Ich ging zur Tür, drehte den Schlüssel um und zog ihn ab. Dass ich einer maßlosen Wut des Ausgesperrten ausgesetzt sein würde, wenn er denn noch vor Ablauf der Nacht zurückkäme, war ein Gedanke, den ich zunächst nicht zuließ.

Zunächst. Er hinderte mich lange am Einschlafen. Aber für zwei, drei Stunden muss ich dann doch wohl geschlafen haben. Ich erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen durchs trübe Fenster fielen. In Sekunden war ich auf den Beinen. Ich raffte meine Sachen zusammen und verpackte sie hastig. Dann stellte ich fest, dass ich nicht mehr wusste, wo ich den Schlüssel hingelegt hatte. Ich hatte mich selbst eingesperrt. Mein Vorsatz, mich auf Französisch zu verabschieden, war in Gefahr, und nicht nur der.

Ich ließ meinen Blick über das Chaos des trostlosen Zimmers schweifen. Der Anblick ließ keinen Optimismus aufkommen. Kopflos lief ich zwischen dem maroden Mobiliar hin und her. Ich wühlte in meinen Taschen. Öffnete die Hängeschranktüren. Die verkanteten Schubfächer des Sideboards. Immer mit der Angst, gleich Hollys Getrampel auf der Treppe zu hören. Dann entdeckte ich den Schlüssel. Er lag direkt vor meiner Nase auf der wie mit Tarnanstrich durch Spritzer und Tropfen verunzierten Kochplatte, von der er sich, oxidiert und abgegriffen, wie er war, kaum abhob.

Mit einem erleichterten Seufzer schloss ich die Tür auf. Den Schlüssel steckte ich wieder von innen auf das Schloss. Ich fühlte jetzt Holly gegenüber ein schlechtes Gewissen ob meines heimlichen Verschwindens. Aber ich musste weg. Rucksackbeladen, meinen schweren Tritt vorsichtig abfedernd, nahm ich meinen Weg treppab.

Ich marschierte ohne Morgenhygiene und Frühstück zur nächsten Autobahnauffahrt. Das erste Auto, das mich mitnahm, war ein Ford Mustang. Der Fahrer war ein Manager aus der Ölindustrie. Er erzählte mir, er sei früher einmal Sozialist gewesen, aber das letzte Mal habe er Thatcher gewählt. In Basingstoke nahm ich den Bus nach London.

Nach Hause zurückgekehrt, erinnerte ich mich, dass ich Holly meine Adresse gegeben hatte. Der Gedanke, er könnte eines Tages vor meiner Tür stehen, war mir unbehaglich. Ich war ihm für seine Gastfreundschaft verpflichtet, aber wie würde es sein, wenn er als der sich bei mir einfinden würde, als den ich ihn kennen gelernt hatte? Er gehörte einem Milieu an, mit dem ich immer den Kontakt gemieden hatte. Und er war mir wie einer vorgekommen, der ein Leben ohne Rücksicht auf andere und auf sich selbst zu leben entschlossen war. Eine extreme Existenz. Der ich glaubte nicht gewachsen zu sein.

Manchmal nehme ich das inzwischen gewaschene und ordentlich gefaltete T-Shirt aus dem Kleiderschrank, das mir von ihm geblieben ist. Dann betrachte ich die mit Blumenmustern verzierte Schrift, die darauf gedruckt ist. Es ist ein Spruch. Er lautet: „Plant your love and let it grow.“