Archiv für November 2009

Seele

Donnerstag, 5. November 2009

Die Seele schwingt sich in die Höh‘, juchhe!/Der Leib, der bleibet auf dem Kanapee.

Wilhelm Busch

Die Lehre von der Wiederkehr/Ist zweifelhaften Sinns./Es fragt sich sehr, ob man nachher/Noch sagen kann: Ich bin’s!

Wilhelm Busch

Lasst euch nicht verführen/Zu Fron und Ausgezehr!/Was kann euch Angst noch rühren?/Ihr sterbt mit allen Tieren/Und es kommt nichts nachher.

Bertolt Brecht

Der Wortlaut einiger Regieanweisungen in Faust II muss nachdenklich machen. Wenn am Ende der „Grablegung“ Mephisto düpiert wird, heißt es vom Chor der Engel: „Sie erheben sich, Faustens Unsterbliches entführend.“ In der Schlussszene „Bergschluchten, Wald, Fels Einöde“ tauchen die Engel wieder auf, „schwebend in der höhern Atmosphäre, Faustens Unsterbliches tragend“. Auch wenn man konzediert, dass Faust ein Lesedrama ist, wird man angesichts der Tatsache, dass Regieanweisungen immer etwas Sichtbares beschreiben, fragen müssen: Was tragen die da? Welches Aussehen kann etwas haben, das alle materiellen Zustände zu überleben in der Lage ist? Welche Eigenschaften, mit denen es visuelle Eindrücke auszulösen vermöchte, hätte etwas seiner Natur nach Unsichtbares? Oder wenigstens: Wie wäre der Eindruck des Transports einer unsichtbaren Wesenheit zu simulieren? Sind die Regieanweisungen nicht hoffnungslos paradox?

Jede Inszenierung des zweiten Teils des Faust-Dramas muss dessen Unaufführbarkeit mitinszenieren. Das Theater gerät also durch diese Fragen nicht in Verlegenheit. Mit der dabei zum Vorschein kommenden Paradoxie kann es sich das philosophische Denken so leicht nicht machen.

Zu dem naiven Bild einer portablen Seele – denn was außer der Seele soll dieses Unsterbliche sonst bezeichnen? – passt die um physikalische Details unbekümmerte Betrachtungsweise der alten Mythen; sie wiesen der Seele ohne Federlesen einen Ort zu. Bei Homer waren Zwerchfell, Leber oder Herz Schauplatz gedanklicher Konflikte, aber auch des Auftretens von Furcht, Zorn, Trauer oder Freude. In diesen inneren Körperorganen formierte sich Entschlossenheit oder machte sich Verzagen bemerkbar. Davon abweichend bildete später im Platonismus der Körper das absolute Außen alles dessen, was sich im Begriff der Seele zusammenfassen ließ. Die begriffliche Unterscheidung zwischen dem Leib und einer dezidiert nichtstofflichen Seele, die in der Vorstellung des Schattenreichs als postmortalem Bestimmungsort zuvor nur schattenhaft erkennbar war, wurde jetzt erst endgültig vollzogen und hielt sich lange.

Freilich waren die im Rumpf versammelten Organe als Wohnorte der Seele niemals ohne Konkurrenz: Athene, deren Wirken stets mit Heroen, die sich durch große Klugheit auszeichneten, in Verbindung gebracht wurde, entsprang dem Haupte des Zeus, gleichsam als Lösung der Probleme, die dem Göttervater Kopfschmerzen bereiteten. Der Kopf war aber auf diese Weise als Sitz derjenigen Funktionen des menschlichen Innenlebens bestimmt, die heute eher an den Begriff des Geistes denken lassen. Es überrascht daher nicht sehr, dass die heutige Philosophie des Geistes am Athene-Mythos anknüpfen kann; sie siedelt Geist und Seele unterschiedslos im Gehirn an. Insofern ist die Philosophie des Geistes wiederum Teil einer Philosophie des Körpers.

Innerhalb des Gehirns ist die Seele ortlos. Die ungeheuer komplizierte Schaltzentrale des menschlichen Organismus verfügt ihrerseits über kein eigenes Zentrum, von dem aus sich für das unüberschaubare Geschehen, das sich in ihr abspielt, eine Ordnung herstellen ließe. Das Ich, in dem sich die Einheit der mit sich selbst identischen Person spiegelt, hat in dem unendlich scheinenden Labyrinth, das sich im Schädel birgt, keine eigene Adresse. Die personale Identität und die Subjektivität des Handelns und Erlebens werden von Vertretern der Hirnforschung denn auch in Frage gestellt. Reduktionistische Theorien drohen, Begriffe wie Geist oder Seele zum Verschwinden zu bringen. Sie verwischen im Sinne des vielzitierten „Kategorienfehlers“ den Unterschied zwischen Haupt- und Trägerinformation, indem sie geistig-seelische Prozesse nur noch als digitalisierte Hirnaktivitäten begreifen.

An der Tatsache, dass das Ich im Gehirn kein Solo spielt, ist indes nicht zu rütteln. Vielmehr entspricht auch die Wahrnehmung in der ersten Person, wie sie die Grammatik vorgibt, einer Melodie, wie sie ein riesiges Orchester produziert; es kommt nicht vor, dass – bei welchem inneren Vorgang auch immer – nur eine einzige Hirnregion aktiv wäre. Es gibt regionale Tätigkeitsschwerpunkte, aber keine regional isolierten Tätigkeiten. Es lässt sich daher auch nichts isolieren, was Seele zu nennen wäre.

Wie lässt sich nach alledem ein durch ein individuelles Ichbewusstsein zusammengehaltenes Seelenleben noch begreifen? Claude Lévi-Strauss hat seine Antwort auf diese Frage in ein etwas ernüchterndes Bild gefasst:

Ich habe nie ein Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich Verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv; etwas ereignet sich darauf. Etwas anderes, genauso Gültiges, ereignet sich anderswo. Es gibt keine Wahl, es ist einfach eine Sache des Zufalls.

Lévi-Strauss scheint mit dieser Äußerung vorwegzunehmen, was manche Hirnforscher inzwischen über personale Identität herausgefunden haben wollen. Doch ursprünglich handelte es sich nur um die Illustration der buddhistischen Lehre, der sich der große Ethnologe geistig nahe fühlt. Ihr zufolge ist das Ich eine Illusion.

In gewisser Weise hat aber eine Straßenkreuzung eine Identität. Man kann sich nämlich einigermaßen fest darauf verlassen, dass zumindest eine größere Zahl Verkehrsteilnehmer regelmäßig dort „aufkreuzt“, weil die Wege, denen sie im Rahmen ihrer alltäglichen Geschäfte folgen, sie mehr oder weniger zwangsläufig dorthin führen müssen. Die quantitative und qualitative Besonderheit des von Kreuzung zu Kreuzung je verschiedenen Verkehrsaufkommens würde dann immer noch eine Identität ausmachen, auch wenn sie nicht mehr allzu stabil wäre. Es gäbe im Rahmen dieses Modells also eine personale Identität, die sich in Form eines unverwechselbaren individuellen Seelenlebens darstellen ließe. Von Subjektivität oder gar Spontaneität wären wir aber noch weit entfernt. Was man bisher als Ich bezeichnet hat, wäre mit dem durch die Neurophilosophie geprägten Begriff des Selbstmodells präziser zu benennen.

Das Gehirn mag ein Selbstmodell hervorbringen. Es wäre aber voreilig, darin das letzte Wort zu sehen und das Selbstmodell nur noch als unwesentliche Begleiterscheinung weit wesentlicherer Vorgänge zu betrachten. Wer „Ich“ sagt, meint schließlich damit nicht bloß sein Gehirn. Überraschenderweise hilft es weiter, sich hinsichtlich einiger Aspekte des subjektiven Erlebens in der ersten Person an den mittelalterlichen Sprachgebrauch zu erinnern: Die Redewendung „mîn lîp“ ist in der Regel mit „ich“ zu übersetzen. Lexers mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch vermerkt zu dem sonst mit „Leib, Körper“ wiederzugebenden Wort: „ … häufig bezeichnet lîp geradezu Person“. Es wäre ein Fehler, darin nichts weiter als eine Synekdoche (pars pro toto) zu sehen. Auch eine nichtrhetorische, etwa konstruktivistische Erklärung würde fehlgehen. Denn hier wird das Ganze noch nicht so gedacht, als würde es vermöge der Aktivität eines Teils – des Gehirns – als bloße Vorstellung erst erzeugt. Kurz: Die Körperwelt und damit auch der mit „mîn lîp“ bezeichnete Körper ist nach dieser Auffassung noch keine Konstruktion des Gehirns. Dadurch entgeht man einer Paradoxie. Das scheinbar überwundene vormoderne Denken ist ohne Umweg naiv realistisch, der Konstruktivismus ist es unweigerlich in Bezug auf das Gehirn, denn nur Gehirne können Gehirne untersuchen. Die Realität dessen, was da konstruiert, muss also von den Konstruktivisten vorausgesetzt werden. Wer erklärt, dass es in Wahrheit gar keine Wirklichkeit gibt, provoziert sein Gegenüber zu der Frage, ob dies auch wirklich wahr sei. Und sitzt prompt in einer selbstgestellten Falle.

Natürlich lässt sich der naive Realismus in keiner Form mehr vertreten. Aber unabhängig von den noch ungelösten erkenntnistheoretischen Problemen bleibt festzuhalten: Das subjektive Erleben, die erste Person, das Ich und das Wir sind Bewusstseinsinhalte. Das Bewusstsein ist „bewusstes Sein“, es spricht, wenn es „von etwas spricht“ eine andere Sprache als das Gehirn. Die Hirnaktivitäten sind eine Art Übersetzung. Das Bewusstsein selbst ist Inhalt, die Hirnaktivitäten sind das Trägermedium. Wer sie zu letzten Bestimmungsgrößen erklären will, könnte genauso gut behaupten, ein Text sei Druckerschwärze und Papier und sonst nichts.

Aber ohne Gehirn kann man weder denken noch fühlen. Und ohne den übrigen Körper kann das Gehirn nicht sein. Das Ich kann also nur den ganzen Menschen meinen, wie das Selbstmodell eben auch nur das Individuum als Einheit abbilden kann. Vor allem: Eine so mit dem Leib verbundene Seele ist nicht transportabel. Sie kann nicht wandern. Der Buddhismus, der ja den Kern jener von Lévi-Strauss artikulierten Gedanken bildet, setzt folgerichtig auch alle Seelenwanderungslehren, sei es die des Hinduismus, sei es die des Platonismus oder auch die der jüdischen Mystik außer Kraft. Die Sterblichkeit der Seele lässt sich auf dieser Grundlage kaum mehr bestreiten.

Der Tod eines Individuums entspräche im oben ausgeführten Vergleich der Stilllegung einer Kreuzung. Ampeln, Wegweiser und Verkehrsschilder wären abgebaut. Infolge einer völlig anderen Verkehrsführung würden die Wege der Teilnehmer, der Fahrzeuge und Fußgänger vollkommen anders verlaufen. Genauer: Die einmalige genetische und soziale Programmierung des Individuums besteht nicht mehr, wenn nichts mehr existiert, worauf etwas in der zugehörigen Programmiersprache geschrieben steht oder geschrieben werden kann. Wenn der Körper das Trägermedium seiner Steuerung nicht mehr unterstützt und zerfällt, zerfällt alles, was in diesem gespeichert ist, mit ihm. Die Seele vergeht mit den körperlichen Bedingungen des Bewusstseins.

Die der Erhaltung menschenunwürdiger Herrschaftsformen und absurder Rangordnungen dienenden Angststrategien greifen nun nicht mehr. Mit dem Höllenfeuer können Christentum und Islam nicht mehr glaubwürdig drohen, und die Karmalehre des Hinduismus, die den Sünder damit bestrafte, dass er sich mit seiner Seele in einem unerwünschten Körper wiederfand, ist als eine das Kastensystem stabilisierende Ideologie entlarvt. Wenn die unverwechselbaren Eigenschaften eines Individuums in dem Resultat bestehen, das die prägenden Erlebnisse im genetisch kodierten Ausgangsmaterial zurücklassen, gibt es nichts mehr, was aus einem Körper auswandern und in einen anderen Körper einwandern kann; die mit einem neuen Körper verbundene Seele ist jedes Mal vollkommen neu, denn sie entsteht mit ihm, lebt durch ihn und vergeht mit ihm. Was der Seele eingeschrieben ist, konnte ihr nur eingeschrieben werden, indem es dem Körper eingeschrieben wurde. Und damit ist es in Sand geschrieben.

Nicht stichhaltig ist der Vorwurf, es werde hier die Seele mit der Psyche verwechselt. Wer ihn erhebt, wird die Antwort auf die Frage nach dem Unterschied schuldig bleiben müssen. Alle Seelenwanderungslehren setzen voraus, dass eine Seele eine Identität hat. Eine solche Identität kann nur dadurch geformt werden, dass man zufälligerweise irgendwo unter bestimmten Umständen geboren wird und das weitere Leben zwangsläufig die unterschiedlichsten Konfigurationen bestimmter äußerer Umstände in sich aufnehmen muss. Diese Erlebnisse, Erfahrungen und Traumatisierungen lassen sich genauso wenig mit auf die letzte Reise nehmen wie die zerfallenden Träger der genetischen Kodierung. Das letzte Hemd hat auch für einen angeblichen psychischen Wesenskern keine Taschen.

Welchen Sinn kann nun die buddhistische Wiedergeburtslehre noch haben, wenn sie doch von Seelenwanderung nichts mehr wissen will? Denn für den Buddhismus kann von der Wiedergeburt einer irgendwie schon vorhandenen individuellen Seele in einem neuen Körper nicht mehr die Rede sein. Vielmehr stellen sich die Buddhisten die Wiedergeburt so vor, als würde sich immer wieder ein neues Puzzle von „Daseinsfaktoren“ aus den Zerfallsprodukten vergangenen Lebens zusammensetzen. Eingedenk der Goetheschen Einsicht, dass kein Wesen zu nichts zerfallen kann, kann man diese Idee auch dann so unplausibel nicht finden, wenn man von materialistischen oder wenigstens naturalistischen Voraussetzungen ausgeht.

Um so enttäuschender ist es, dass der Buddhismus, dem alles bisher Gesagte doch zur Ehre gereicht, an der Karmalehre festhält. Sie war spätestens, seit uns das vergangene Jahrhundert mit seinen unermesslichen Greueln einen Eindruck, wenn nicht sogar einen Vorgeschmack des Menschenmöglichen vermittelte, nicht mehr haltbar. Auch vorher war sie schon in logischer Hinsicht inkonsistent genug. Etwas, das wie die personale Identität keine Wirklichkeit besitzt, kann dem Prinzip der Verursachung nicht unterworfen sein, denn unwirkliche Ursachen können nicht wirken. Und schließlich: Die Vorstellung, die Opfer sämtlicher Völkermorde der Weltgeschichte hätten durch ihr Los ein schlechtes Karma abzubüßen, ist kaum weniger abstoßend als die in ihrer Niedertracht zum Himmel stinkende Prädestinationslehre der Calvinisten. Diese beraubt die im Diesseits zu kurz Gekommenen selbst noch ihres illusorischen Trostes, jene blockiert durch die Unterstellung eines universalen Sinns jeden metaphysischen Protest, der doch die Voraussetzung allen diesseitigen Widerstands gegen das Übel wäre.

Es scheint keine Religion zu geben, deren Vertreter nicht Grund hätten, die Menschheit um Verzeihung zu bitten. Das Schindlunder, das sie mit einer nur chimärischen Seele jahrtausendelang getrieben haben, hat in der äußeren wie inneren Wirklichkeit Furchtbares angerichtet.