Erfahrung

Begriffe ohne Anschauung sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.
Immanuel Kant

Auf Erfahrung berufen sich Hinz und Kunz. Nicht selten meint man damit etwas Unhintergehbares, etwas, das das Ende der Debatte markieren soll: Hinz hat diese, Kunz hat jene Erfahrungen – und Schluss. Die Auseinandersetzung kann dann aus gegebenem Anlass jederzeit wieder aufgenommen werden. Es ist vorhersehbar, dass sie unter gleichen Prämissen auch jederzeit wieder denselben Verlauf nehmen wird. Die entscheidende Voraussetzung bildet dabei der Erfahrungsbegriff. Es fragt sich nämlich, ob Hinz unter Erfahrung dasselbe versteht wie Kunz.

Voraussetzungen lassen sich klären, auch diese. Man könnte beispielsweise die Bedeutung des Wortes „Erfahrung“ mit der nicht immer zu Recht verpönten etymologischen Methode zu erschließen versuchen. Beginnen wir mit dem Präfix: Es bezeichnet eine Zielgerichtetheit oder einen Ergebnisbezug: ein anderer Zustand soll durch die im Wortstamm genannte Handlung herbeigeführt werden oder wird durch sie unabsichtlich herbeigeführt. In unserem Fall rückt durch die Vorsilbe „er-“ das Resultat des Fahrens in den Blick. Mit Fahren meinen wir eine beliebige Bewegung im Raum oder auf einer Fläche: Man fährt sich mit der Hand über die Stirn, bewegt sich auf Rädern fahrend in einem Fuhrwerk oder in einem Rennwagen, man fährt zur See oder betreibt Raumfahrt. Und uns alle verlangt es mehr oder weniger stark danach, in die Welt hinaus zu fahren.

Wer Erfahrungen gesammelt hat, kommt von der Fahrt mit etwas zurück. Da man sich nicht im Grenzenlosen bewegen kann, ist man normalerweise in etwas erfahren oder – um ein anderes Verb der Bewegung zu verwenden – in einer Sache bewandert. Wer bewandert ist, hätte also einen spezifischen Erfahrungsraum ausgeschritten, sich dessen Gehalt auf diese Weise erschlossen und zu eigen gemacht. Er wäre dann ein Fachmann, der sich durch seinen Erfahrungsschatz auszeichnet.
Schätze sind Ansammlungen wertvoller Gegenstände. Ihr Glanz blendet. Ihre Betrachtung lässt darum nicht gleich das Bild fleißiger Zwerge in uns aufsteigen, die in ihren Höhlen Goldkelche ziselieren – allzu leicht sehen wir davon ab, dass es sich bei Dingen, die zusammen einen Schatz bilden, um etwas Hergestelltes handelt. Aber auch ein metaphorischer Schatz wie der aus Erfahrungen bestehende ist keineswegs naturgegeben. Erfahrungen muss man machen. Sie sind auf die Aktivität eines Subjekts angewiesen.
Ein Subjekt ist kein Behälter, der sich einfach nur abfüllen lässt. Der Bewanderte wird auch nicht wie Blinder oder ein Betrunkener durch seinen Erfahrungsraum gestolpert sein. Man muss ihn sich vorbereitet, vielleicht sogar kartographisch ausgebildet und mit einer Karte bewaffnet vorstellen. Und er wird seine Karte ständig korrigiert und überarbeitet haben. Darum kennt er sich aus und kann sich orientieren. Das könnte er nicht, wenn er nicht einigermaßen genau registriert hätte, wo und unter welchen Umständen ihm etwas begegnet ist. Das entsprechende Verfahren muss vorher erlernt worden sein. Bekanntlich gingen den Wanderjahren die Lehrjahre voraus. Wandernd ließ sich dann erfahren, was am Erlernten brauchbar, unbrauchbar oder überholt war. Mit einem neu sortierten Erfahrungsschatz kehrte ein prospektiver Meister zurück, der unterwegs einen professionellen Ordnungssinn hatte entwickeln können. Man sieht: Ein Subjekt, das Erfahrungen gemacht hat, ist kein mit zufälligen Erlebnissen gefüllter Sack. Wäre es das, so könnte man sich die Karte, die nachträglich seine Bewegungen festhält, nur als wirr bekritzeltes Stück Papier vorstellen.
Erfahrungen macht man, indem man sich Erlebnissen aussetzt, von denen man nicht selten im voraus weiß oder ahnt, wo sie zu haben sind. Man hat dann schon zu Beginn eine Vorstellung davon, was man später mit ihnen anfangen will. Jedenfalls sind Erfahrungen nicht voraussetzungslos. Erst recht nicht im Fall der Erfahrungswissenschaften, die aus einer Fragestellung eine Versuchskonstellation entwickeln und das experimentell gewonnene Ergebnis denen zukommen lassen, die an einer technischen Verwertung interessiert sind – nicht immer zum Besten der Betroffenen, die mit der Umsetzung von Forschungsergebnissen auch unangenehme Erfahrungen machen können.
Der Experimentator ist der Idealtyp eines Menschen, der Erfahrungen macht. An seinem Beispiel lässt sich zeigen, dass es sinnvoll ist, zwischen Erfahrung und Erlebnis zu differenzieren. Nähme ein äußerer oder innerer Sinn bloß Ereignisse in sich auf, würde nichts Haltbares zurückbleiben außer vielleicht Bildern, deren Bedeutung uns unbekannt bliebe. Die Bedeutung des Erlebten, ist das, was sich mit ihm anfangen lässt. Wir weisen als Subjekte den Dingen und den Ereignissen Bedeutungen zu. Erfahren ist, wer weiß, was Erlebtes bedeutet und warum er eine bestimmte Bedeutung einer anderen vorzieht.
Dieses Wissen lässt sich in Worte fassen. Und die experimentell ermittelten Erfahrungsdaten sind die Antwort auf eine Frage, die vor ihrer Entstehung formuliert werden musste. Wir müssen wissen, was wir wissen wollen. Ohne einen vorher vorhandenen begrifflichen Apparat haben wir keine Möglichkeit, das Material angemessen zu verarbeiten. Ohne die Begriffe Ursache und Wirkung werden wir aus bestimmten Ereignisfolgen keinerlei Erkenntnis gewinnen. Und ohne dass wir wissen, wie man vergleicht, werden uns die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von sinnlich registrierten Ereignissen, Zuständen und Objekten entgehen. Vergleichen ist eine Operation, die Begriffe wie Identität und Verschiedenheit, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit voraussetzt, und keine Instinkthandlung, der man sich überlassen könnte.
Aber gibt es nicht auch unwillentlich gemachte Erfahrungen? Prägungen, die man „erfährt“, ohne dass ihre Auslöser bewusst aufgesucht werden? Sind sie nicht sogar der Normalfall? Man könnte sich die Antwort leicht machen: Erlebnisse, die derjenige, der sie hatte, keiner begrifflichen Verarbeitung unterzieht, sind keine Erfahrungen. Unverarbeitete Erlebnisse haben keine stabilen Bedeutungen, deren Tragfähigkeit man in der Realität erfolgreich testen könnte. Wir können uns allenfalls manchmal auf gut Glück mit Bildern unseres Erlebens behelfen, etwa wenn in einem Moment der Gefahr eine Erinnerung aufblitzt. Zuverlässig ist so ein Zufall nicht. Wie könnte aber Erfahrung einen so hohen Wert darstellen, wenn man sich auf das Erfahrene nicht halbwegs verlassen könnte?
Trotz allem muss zugegeben werden, dass der Begriff der Erfahrung alltagssprachlich nahezu gleichbedeutend mit Erleben oder Erlebnis verwendet wird. Man denkt dabei an eine unbewusste Art der Verarbeitung, die Verhaltenssicherheit gewährleisten kann, so dass auch von einem Menschen, der sich im Zustand weitgehender Sprach- und Begriffslosigkeit befindet, gesagt werden könnte, dass er über Lebenserfahrung verfügt. Auf die kommt es, soviel ist richtig, bei uns allen am meisten an. Aber über das, was sie angeblich umfasst, wird auch am meisten gestritten. Beispielsweise zwischen den verschiedenen Generationen. Gestritten wird dann darüber, ob da, wo Erfahrung draufsteht, auch Erfahrung drin ist. Spätestens dann bekommt die Unterscheidung zwischen Erfahren und Erleben wieder ihren Sinn. Denn wer sich auf Erfahrung beruft, kann das nicht außerhalb der Sprache tun. Und Worte, die nicht wenigstens in einem gewissen Sinne Begriffe sind, sind für eine Auseinandersetzung der genannten Art untauglich. Sie wäre sinnlos, wenn die Streitenden nichts begreifen oder begreiflich machen wollten.
Es geht in solchen Meinungsverschiedenheiten immer um zweierlei: Erlebnisse und Verarbeitungskategorien. Angebliche Erlebnisse können Münchhauseniaden sein und Kategorien können unangemessen sein oder unangemessen verwendet werden. Das tut, wer leugnet, dass er sie überhaupt verwendet; er beruft sich lieber auf das als Erfahrung fehletikettierte bloße Erlebnis. Der Fehler besteht in der Vorstellung, dass dem Erlebnis seine Bedeutung auf der Stirn geschrieben steht oder dass ein Ereignis durch sich selbst die Regeln seiner Interpretation offenbart. Übersehen wird, dass das Subjekt seine gleichsam angeborene Deutungshoheit überhaupt nicht abgeben kann. Ein Verzicht würde lediglich auf deren unbewusste Ausübung hinauslaufen. Und vor der Unterwerfung unter die Überwältigungsmacht des Ereignisses kann man – sofern sie außerhalb des Ästhetischen stattfindet – nur warnen. Es gibt da gewisse Erfahrungen, die bitter genug sind, um diesen Namen wirklich zu verdienen.
Ohne Zweifel gibt es Deutungsspielräume. Für die über unterschiedliche Erfahrungen Streitenden bleiben jedoch zwei Dinge elementar: sachliche und logische Richtigkeit. Der Satz „Das Gras ist grün“ ist nur dann richtig, wenn das Gras grün ist, und es gilt: A=A – oder etwas plastischer: ein Eichhörnchen ist kein Laternenpfahl. Das legt bekanntlich niemand fest, aber eine andere Autorität als der common sense ist auch nicht nötig, denn wir können unter anderen Voraussetzungen weder denken noch sprechen. Einigkeit in Fragen der Lebenserfahrung ist nichtsdestoweniger schwer zu erreichen; wir neigen dazu, für die Interpretationen unseres Erlebens Geltungsansprüche zu erheben, deren rigorose Ausschließlichkeit unsere Beziehungen schwer belasten kann.
Unsere – vielleicht utopische – Hoffnung gilt einem Zustand, der so etwas ausschließt: Bei ausreichend vorhandener Zeit, einer gleichmäßig verteilten Kenntnis der rechten Gesprächsmethode und gegenseitigem Wohlwollen der Gesprächspartner ließen sich die persönlichen Unzulänglichkeiten der jeweiligen Standpunkte und Argumentationen zugunsten einer interessenunabhängigen Wahrheitsfindung abbauen. Wechselseitig gilt: Wir müssen die logische Wahrheit unserer Erfahrung diskursiv in Frage stellen können, ohne unserem Erleben die Wirklichkeit zu bestreiten. Denn die Logik gehört allen zusammen, aber die Erlebnisse sind Eigentum der Individuen. Nur wenn wir das beherzigen, kann sich Erfahrung als solche erschließen. Doch das wäre eine Erfahrung eigener Art.

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