Zeitgespenster

Für Markus Melchers

Nach Helmuth Plessner wird die Fähigkeit, „mit anderen Augen sehen (zu) lernen (…) aktiviert durch ein echtes Erlebnis, d.h. Schmerz, (der) die Vertrautheit zerstört, so dass es uns wie Schuppen von den Augen fällt.“ „ (…) den Mut zur Anschauung einer Welt“ so heißt es weiter in dem Aufsatz „Mit anderen Augen“, „findet nur eine bis in den Grund erschütterte und an sich verzweifelnde Zeit. (…) Nur der bittere Trank der Enttäuschung sensibilisiert. Der Schmerz ist das Auge des Geistes.“
Die Stelle kann einen dazu veranlassen, die eigenen Erinnerungen nach verunsichernden Erlebnissen zu durchsuchen, die geeignet waren, Veränderungen der Sicht auf die Welt anzustoßen. Wollte man aber stattdessen die Erinnerungsarbeit der Masse der Angehörigen der Kriegsgeneration an dem messen, was Plessner kaum verhohlen als eine Art Maßstab formuliert hat, so würde damit das Bild eines Nachkriegsdeutschland heraufbeschworen, in dem das „Auge des Geistes“ hinter einer Schlafmaske verschwindet.
Über die Frage, was die Achtundsechziger dazu brachte, sich (und weniger erfolgreich anderen) die Schlafmaske vom Gesicht zu reißen, ist viel geschrieben worden. Wichtig war ohne Zweifel, was sie gelesen hatten, nämlich Texte von Emigranten, also von Männern und Frauen, die wie Plessner selbst erleben mussten, „der Zone der Vertrautheit fremd geworden (zu) sein.“ Doch anders als die­jenigen, die keine andere Wahl hatten, als die Dinge anders als wie zuvor gewohnt zu sehen, agier­ten die Achtundsechziger aus der Komfortzone heraus – auch wenn später manche sich selbst aus aus der Komfortzone hinausagierten.
Zu denen gehören zu wollen, vor denen einen die eigenen Eltern immer gewarnt hatten, hatte zu­nächst mehr spielerische Züge, als man selbst wahrhaben wollte. Aber die Exponenten der Verhält­nisse, mit denen man sich anlegte, verstanden gerade in dem Maße keinen Spaß, in dem die gesell­schaftlich Maßgebenden sich als unfähig erwiesen, eben jene Verhältnisse „mit anderen Augen“ zu sehen.
Linke, die sich damals als dagegen widerständig begriffen, betrachteten diese Verhältnisse freilich durch eine geliehene Brille. Die Brille der Emigranten vom Schlage Plessners oder der Vertreter der Kritischen Theorie hatte man noch dazu schnell vertauscht. Der unerschütterliche Glaube an einen unaufhaltsamen Fortschritt trat an die Stelle der radikalen Infragestellung alles Vorgefundenen, und DDR-Ideologen brachen sich Verzierungen ab, um zu beweisen, dass der Marx des Wahlspruchs „de omnibus dubitandum“ nicht der wahre Marx sei.
Mochte Marx von den Achtundsechzigern auch berechtigterweise als eine ebenso grundstürzende wie grundlegende Entdeckung betrachtet werden – der Marxismus, von dem er selbst erklärte, ihm nicht anzugehören, erreichte sie schließlich nur noch in Form kommunistischer Orthodoxie, entweder sowjetischer oder maoistischer Bauart. Man wollte zu den Siegern der Geschichte gehören und entwickelte, um einer ideologischen Heimatlosigkeit zu entgehen, ein fatales Anlehnungsbedürfnis.
Aber plötzlich war da keine Lehne mehr, und es fehlte auch eine Krücke, auf die man sich hätte stützen können. Und weit und breit kein „Geländer am Strom“.
Man betrachtete nun entweder kopfschüttelnd das diesem Katzenjammer folgende chaotische Spiel eines postmodernen „anything goes“ oder man fühlte sich bemüßigt dabei mitzumachen, weil man nicht den Anschluss an die intellektuelle Mode einer neuen Generation verpassen wollte. Mochte auch das Dogma des Konstruktivismus, dem zufolge es in Wahrheit keine Wirklichkeit gibt, mit der kalauernden Frage: „Und das ist wirklich wahr?“ noch nicht ganz auszuhebeln sein, der Phantomschmerz der für verloren erklärten Wirklichkeit – einer Wirklichkeit, zu der man doch privilegierten Zugang beansprucht hatte – wollte einfach nicht verschwinden.
Eine Wiederbelebung der einst selbst zum Dogma erklärten Widerspiegelungstheorie kam andererseits nach der neurowissenschaftlichen Durchleuchtung des Erkenntnisapparats nicht mehr in Frage. Aber befriedigend kann man es wahrhaftig nicht finden, dass das menschliche Ringen um Erkenntnis darauf reduziert wird, dass irgendwelche Konstruktionen um Viabilität konkurrieren. Denn von einer solchen Absage an jeden Wahrheitsanspruch ist nur noch ein Schritt zu der Rede von Narrativen, unverbindlichen Rechtfertigungserzählungen also, die sich bei Licht betrachtet von Werbespots nicht mehr allzusehr unterscheiden und ohne Umstände zu fake news erklärt werden können, wenn sie einem nicht in den Kram passen. Wenn etwas nur ein Narrativ ist, kann locker mit „alternativen Fakten“ aufgewartet werden. Das „Ende der großen Erzählungen“, mit dem die Lücken und Defizi­te eines altehrwürdigen Universalismus zutage kamen, hatte die unangenehme Nebenwirkung, dass nun ein überaus hässlicher, zuweilen identitär kontaminierter Relativismus Platz griff.
Wirklichkeit oder gar Wahrheit sind in so einer Atmosphäre Begriffe, die sich auf der Schwarzen Liste wiederfinden. Wer an ihnen festhält, ist lästig und, schlimmer, er ist nicht up to date. Sofern die genannten universalistischen Ideale sich noch einer Tradition verdanken, die sich durch die Jahr­hunderte zurückverfolgen lässt, und nicht nur argumentative Manövriermasse im Interessenwider­streit sind, laufen sie Gefahr, durch den vorherrschenden Relativismus untergepflügt zu werden.
Das kündigte sich schon vor Jahrzehnten an. Dazu eine private Anekdote. Ein mir zuvor fast be­freundeter und nun in Poona zu Bhagvan bekehrter ehemaliger Kommilitone, der nach seiner Rück­kehr von seinen Erlebnissen berichtete, tönte begeistert, man könne in Indien prima leben. Als ich einwarf: „Ja, wenn man nicht zufällig Inder ist“, bekam ich den verärgerten Ausruf zu hören: „Ach hör mir doch auf mit diesem Sozialscheiß!“ In der nun folgenden Auseinandersetzung ließ ich mich dazu hinreißen, aus der letzten Strophe von Brechts Einheitsfrontlied vier Zeilen zu zitieren, die mir gewissermaßen heilig sind, weil sie das repräsentieren, wovon ich glaube, dass daran jederzeit un­bedingt festzuhalten ist. Sie lauten:

„Und weil der Mensch ein Mensch ist,
drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern.
Er will unter sich keinen Sklaven sehn
und über sich keinen Herrn.“

Selbst dieser elementare Grundsatz war in unserem Gespräch nicht mehr konsensfähig. Am Ende kam nur noch die Frage: „Woher weiß der das?“
Hier wurde ohne Not zweierlei für irrelevant erklärt: die soziale Wirklichkeit und die Maßstäbe, an denen sie zu messen wäre. Etwas anderes als das subjektive Wohlbefinden kann so nicht mehr von Interesse sein. Man hat es offensichtlich mit einem schweren Fall von Narzissmus zu tun. Es gerät in Vergessenheit, dass ohne jene Voraussetzungen Dialogfähigkeit nicht bestehen kann. Die Schwe­re des Falles besteht darin, dass die narzisstische Indolenz gegen Erfahrungen abschirmt, die geeig­net wären, den subjektiv so Glücklichen zu verstören und damit für andere zu öffnen. Die Welt da draußen ist ihm so gleichgültig, als wäre sie nicht vorhanden.
In seinem Lyrikband „Die Geschichte der Wolken“ hat Hans Magnus Enzensberger an die „Welt da draußen“ erinnert, die es ja nach Ansicht des differenzlose Begriffe verschmähenden „neuen Realis­ten“ Markus Gabriel bekanntlich nicht gibt (wenn auch anders dann irgendwie doch). Im Gedicht wird der gängigen Neigung zur bedingungslosen Ausstellung von Blankoschecks für alles Kontrain­tuitive, der Bereitschaft zur Leugnung der Widerständigkeit der Welt eine ebenso entschiedene wie gelassene Absage erteilt:

Bischof Berkeley ins Stammbuch
Lautlos versichert die Welt mir,
dass sie da ist, geduldig,
augenblicklich, immer von neuem:
der Staub, in der Hitze flimmernd,
auf dem Daumen der Hammer,
mit ihren Krallen die Katze,
auch jene fliehende Wolke dort,
die der Wirklichkeit
so leicht keiner nachmacht.

Sie fragt nicht nach euch,
liebe Mystiker, äußert sich nicht,
wenn ihr sie wieder einmal
für Augentrug haltet.
„Konstruktivismus“,
Philosophengemurmel,
physikalische Träumereien,
„ein paar Quarks und sonst nichts“,
lässt sie auf sich beruhen.

Sie hört nicht auf euch, die Welt
mit ihren Katzenaugen.
Sie lässt euch reden, geduldig,
so lang, bis sie zuschlägt
mit ihren Krallen, spielt
noch ein Weilchen mit euch,
vergisst euch, und bleibt.

Hier erinnert die Welt mittels des Hammers auf dem Daumen und der Krallen der Katze an ihre Existenz, so als bedeute die Welt mit anderen Augen zu sehen, sie plötzlich überhaupt zu sehen. Un­angenehme taktile Erfahrungen stoßen uns mit der Nase darauf, dass da nicht etwa nichts ist. Was da ist, geht uns zumindest insofern etwas an, als es uns zum Gang zum Verbandskasten veranlasst. Aber es gibt ja auch genug Beispiele tieferer Erlebnisse, die mehr von uns verlangen als eine solche Handlung der Selbstsorge. Man muss dabei nicht unbedingt an die kürzlich ausgerufene Zeitenwende denken, auch wenn diese manchem eine – freilich schmerzhafte – Chance eröffnet, das von den Lebenslügen der Vergangenheit in eine Schieflage Gebrachte wieder gerade zu rücken. Aber es steht ein noch größerer Elefant im Raum.
In seinem am 5.12.2022 im „Perlentaucher“ veröffentlichten Essay „Rückkehr des Ernstfalls. Ein evidenzbasierter Vorgriff auf die Zukunft“ nennt Daniele Dell’Agli die Sache beim Namen: „Der Klimawandel mit all seinen Folgen lässt uns wieder auf den harten Boden der Realität aufprallen. Das Leitmotiv kultureller Selbstverständigung lautet nun nicht mehr ‚Wie wirklich ist die Wirklich­keit?‘ sondern: wieviel Infragestellung von Wirklichkeit können sich die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts noch leisten, ohne ihr Überleben zu gefährden? Dabei wird die Rückkehr des Ernst­falls sich nicht in einer Re-Essentialisierung sinnverwaister philosophischer Disziplinen erschöpfen. In der von allen Lebewesen geteilten Atmosphäre gibt es nämlich nur Eine gemeinsame Welt.“

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