Archiv für Mai 2010

Kontingenz II

Montag, 24. Mai 2010

FELDPREDIGER: Wir stehen alle in Gottes Hand.

MUTTER COURAGE: Ich glaube nicht, dass es schon so schlecht um uns steht.

Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder

God, spelled backwards, is man’s best friend.

Diter Rot

Der seit Aristoteles übliche modallogische Gebrauch des Kontingenzbegriffs löst keinerlei Erschrecken aus. Um solches zu bewirken, musste ihn erst einmal die Ontologie für sich entdecken. Es war Günther Anders, der schließlich vom „Kontigenzschock“ sprach. Ein Erlebnis wie ein Schock kann nüchtern beschrieben werden. Aber eine solche Beschreibung vermag weder den Schock zu reproduzieren noch von der Tragweite der entsprechenden Erfahrung zu überzeugen. Es scheint, als verlangten die Grenzen, auf die begriffliches Denken bei seinen Bemühungen um eine angemessene Behandlung des Kontingenzbegriffs stößt, nach einer literarischen Form. Den bekanntesten Versuch, hierbei über das bloß Begriffliche hinauszugelangen, stellen die einschlägigen Passagen in Jean Paul Sartres Roman „La nausée“ dar. Sein unbestreitbarer Wert als Kunstwerk, als klassisches Werk der Moderne, erschwert inzwischen jedoch die Wahrnehmung seiner eigentlichen Leistung. Der Leser vermag möglicherweise die Kontingenzerfahrung kaum mehr von Roquentin, dem Helden des Romans, zu trennen. Zu bequem ist es, sie zum pathologischen Phänomen zu erklären und sie ihm als eine Art Marotte anzulasten. Die Hervorhebung, die Roquentins immer wieder zitiertes Erlebnis mit der bekannten Baumwurzel durch den literaturhistorischen Denkmalssockel erfährt, schafft zusätzlich eine Besonderheit, welche die Abschiebung des Bewunderten ins Wunderliche zu leicht macht. Vielleicht ist es darum nicht überflüssig, wenn jemand – und sei es auch mit wesentlich niedrigerem Anspruch – auf eigenes Erleben zurückgreift, um die grundsätzliche allgemeine Erfahrbarkeit von Kontingenz auf niedrigerer Stufe nachzuweisen. Der folgende Text soll darum einem solchen Nachweis der Common-sense-Kompatibilität dienen:

Sierra Nevada

Ein Reisebericht

Life’s but a walking shadow, a poor player/That struts and frets his hour upon the stage/And then is heard no more: it is a tale/Told by an idiot, full of sound and fury,/Signifying nothing.

William Shakespeare, Macbeth

Vermutlich ist die Formel überall die gleiche. Der Wortlaut ist selbstverständlich verschieden, aber die Dinge haben ihre Ordnung. In Spanien sagt man: „Quisiera alquilar un coche.“ Dann läuft alles ab wie überall in der Welt. Alles ist vorbereitet. Man ist erwartet worden. Das Verlangte ist an seinem Platz. Vorausgesetzt immer, dass die Geldbörse enthält, was man braucht, um sich Wünsche zu erfüllen. Dann unterschreibt man einen Vertrag, zahlt etwas an, steckt den Durchschlag ein, bekommt einen Zündschlüssel und startet mit ihm den Wagen.

Mein Auto war klein und billig, ein Seat Marbella. Mit ihm wollte ich von Granada aus, wo ich einen Teil meines Urlaubs in der Wohnung von Freunden verbrachte, die Sierra Nevada erkunden. Ich wendete mich nach Süden und ließ die Stadt hinter mir. Die Berge, die ich von den Fenstern meiner Ferienwohnung hatte sehen können, rückten schnell näher. Dann stieg die gut ausgebaute Straße rasch an. Schilder informierten regelmäßig über die jeweils erreichte Höhe über dem Meeresspiegel.

Ich erreichte den „Puerto Sospirio del Moro“, den Pass, von dem aus Boabdil, der von den Katholischen Königen vertriebene maurische König von Granada, ein letztes Mal sein Land gesehen haben soll. Es war ein diesiger Tag, aber dass der König Anlass hatte, zum Abschied zu seufzen, war sichtbar. Der Blick in die im Dunst immer unbestimmter werdende Weite mochte freilich die in Reiseführern genährten Erwartungen nicht so recht erfüllen. Auch musste ich mir vieles seit 1492 Hinzugekommene wegdenken, wodurch die Landschaft nicht gerade gewonnen hatte. Aber auch für das verschwimmende und entfernte Weichbild der Stadt bestätigte sich noch das den alten Glanz beschwörende Sprichwort: „Quien no ha visto Granada, no ha visto nada.“

Als ich die Reise fortsetzte, merkte ich, dass ich die Sierra Nevada hässlich fand. Weit unterhalb der Höhe, die normalerweise die Baumgrenze bildet, fand ich kaum mehr Vegetation vor. Die jetzt im Sommer verlassenen riesigen Skihotels, die ich von Zeit zu Zeit passierte, gaben den kahlen Gebirgshängen den Anstrich reiner Funktionalität, so als sei die Sierra eben ein Skigebiet und weiter nichts. Die Straße war neu und gut ausgebaut. Mein reibungsloses Vorwärtskommen verstimmte mich fast.

Gegen Mittag parkte ich vor dem Gipfelrestaurant der Veleta. Auf 3428 Metern Meereshöhe war die Luft dünn. Es war bewölkt und auch auf die zahlreichen Touristen im Restaurant schien sich eine trübe Stimmung gelegt zu haben. Die Geräusche in dem großen Raum mit Panoramablick wirkten auf mich merkwürdig gedämpft.

Es hielt mich nicht mehr lange auf der Veleta und auch nicht unter Menschen. Ich setzte mich wieder ins Auto.

Von der Veleta aus hatte ich den Gipfel des Mulhacén sehen können. Mit 3478 Metern ist er der höchste Berg der iberischen Halbinsel. Während ich mich im diffusen Licht des bedeckten Tages auf ihn zubewegte, nahm die Landschaft mehr und mehr, jedenfalls noch mehr als bisher schon, den Charakter einer Geröllwüste an. Der Weg zum Gipfel zweigte von der Straße ab und führte über eine steile, aber für ein Auto immer noch leicht zu bewältigende Schotterpiste. Das alles lud ob seiner Reizlosigkeit nicht zu Fußmärschen ein. Ich hatte nicht das Gefühl, mir diese graue Szenerie durch körperliche Anstrengung erschließen zu müssen. Überhaupt wusste ich kaum noch, was ich hier sollte. Aber wenn es so leicht ist, auf den Mulhacén zu kommen, warum sollte ich nicht hinauffahren?

So fand ich mich denn auf dem Gipfel wieder. Er gestaltete sich fast zu einer Art natürlicher Aussichtsplattform ohne größere Höhenunterschiede. Ich sah nur wenige Menschen. Zwei, drei Autofahrer, zwei Wanderer. Keiner blieb lange. Ich hätte mir also für den Blick in die Runde alle Zeit der Welt nehmen können, denn ich blieb so gut wie ungestört. Die Wolkendecke war jetzt stellenweise aufgerissen, hier und da gab es sonnenbeschienene Partien, und es war nicht einmal besonders kalt. Ich hätte abwarten können, bis ich ganz allein hier oben war, wie ich es sonst bei vergleichbaren Gelegenheiten gern tat.

Aber ich konnte den Anblick dieser Landschaft kaum ertragen. Ein Fernblick, wie ich ihn doch sonst immer gesucht und genossen hatte, ließ mich beinahe die Fassung verlieren. Ich sah in der scheinbar unendlichen nahezu vegetationslosen Weite nichts als ungeordnet und sinnlos hingeschüttete Stein- und Erdmassen, hier Höhen, dort Tiefen, hier Berge, dort schattenschwarze Löcher und Furchen. Und das alles sagte mir: Hier bist Du nicht willkommen. Du gehörst nicht hierher. Hier gehst du nicht erst verloren, wenn du hierher gelangt bist; wer sich hierher verliert, ist schon verlorengegangen.

Einsamkeit und Unbewohnbarkeit von Landschaften hatten mich sonst nie geschreckt, aber hier war etwas kaum Fassbares, das mich erschauern ließ. Es war die Zufälligkeit alles dessen, was ich vor mir liegen sah, die Laune der Erdgeschichte, die meine Wahrnehmung dem beinahe rein Anorganischen aussetzte, ohne dass die Erschütterung von ihm ausging, die man dem Erhabenen zuschreibt. Es war eine Mischung aus Angewidertsein und Grauen. Das Tröstliche, das darin liegt, von einem kahlen Gipfel herunter zu sehen und unter sich Wälder zu erblicken, unter denen man einen Boden weiß, der Leben und Wachstum möglich machte, war einem hier oben versagt. Es war, als gäbe es nur noch das Mineralische.

Und doch war der Zustand dieser Landschaft kein natürlicher. Ich war nicht mit einem Mal der ganzen bösartigen Gleichgültigkeit der Natur konfrontiert worden. Die Hänge der Sierra Nevada waren nicht immer baumlos gewesen. Hier hatte sich das Bauholz für die Karavellen der Konquistadoren und für die Galeeren der Armada gefunden. Behauen und gefügt waren die Bäume der Sierra im Ärmelkanal, im Südatlantik oder im Sargassomeer versunken. Sie hatten gebrannt, bevor sie sich zerschossen bei Lepanto oder in der Karibischen See in den Meeresgrund bohrten. Und sie waren aus diesem Gebirge verschwunden, das dann während mehrerer Jahrhunderte erodierte.

Aber die Zufälligkeit der vor mich hingeschütteten riesigen Geröllhaufen war durch diesen Gedanken nicht aufgehoben. Was ich sah, ließ sich nicht durch die Idee einer menschlichen Schuld überlagern. Die menschliche Geschichte hatte alles nur zu seiner Kenntlichkeit entstellt. Das scheinbar Zielbewusste der naturzerstörenden Handlungen war nur Teil eines noch größeren Zufalls, der mir, allein, wie ich war, nur noch höllisch erschien. Der Bestimmung, in diesem Spiel vorzukommen, war es vorzuziehen, überhaupt nicht mehr vorzukommen. Das milde Licht, das jetzt auf allem lag, war ein Hohn.

Ich weiß nicht, wie es auf die neu hinzukommenden Gipfeltouristen wirkte, als ich ihnen abwesend und verstört ins Gesicht blickte und mich dann überhastet in meinen Mietwagen zwängte. Ich weiß nur noch, wie mich der Schein der Abendsonne, der, nachdem ich den Mulhacén hinter mir gelassen hatte, ungefiltert auf den Südhang der Sierra fiel, aufatmen ließ. In einem Dorf am Eingang der Alpujarras traf ich schließlich eine Gruppe deutscher Motorradfahrer, denen ich bei der Quartiersuche behilflich sein konnte und mit denen ich mich – selbst immer noch hilflos – beim Wein unterm Sternenhimmel verbrüderte. Ich zahlte meine Zeche und mein Quartier schon vor dem Schlafengehen und brach wieder auf, bevor meine neuen Freunde erwacht waren.

Kommentar

Das Bild einer absurden Kosmologie, wie es dieser Bericht fühlbar machen soll, findet sich schon im Brief von 18. August von Goethes Werther-Roman: Das ‚pulsierende‘ Universum erscheint dort – alles Seiende immer wieder verschlingend und immer wieder ausspeiend – als „ewig wiederkäuendes Ungeheuer“. Diese radikal nihilistische Aufwallung sollte wohl ursprünglich lediglich die innere Verfassung des Helden veranschaulichen, doch von ferne lässt hier schon Mephisto mit seiner Bevorzugung des Nichts vor dem Etwas grüßen. Man darf vermuten, dass dieser Mephisto nur jemandem einfallen konnte, der in seinem Sinnverlangen durch die unabweisbare Erfahrung der Kontingenz enttäuscht wurde.

Die Frommen aller Bekenntnisse wollen von einer solchen Unabweisbarkeit nichts wissen. Zuletzt meinten die Vertreter der Lehre vom „intelligent design“ das Anathema aller Gläubigen widerlegen zu können: die Vorstellung eines vollständig zufallsbestimmten Universums. Ein solches lässt Naturgesetze nur als Ausnahmen zu oder kennt die ihnen gehorchende Welt nur als nach dem reihenbildenden Prinzip von Borges’ „Bibliothek von Babel“ herausexperimentiertes Produkt. Die dagegen gerichtete Argumentation beruft sich auf die im Weltall vorzufindenden stabilen Gesetzmäßigkeiten und verlässlich anzutreffenden Strukturen. Diese seien von einer solchen Komplexität, dass sie auch angesichts einer zwar nahezu unendlichen, aber rechnerisch überschaubaren Geschichte des Kosmos statistisch zu unwahrscheinlich seien, um nicht doch von einer höheren Intelligenz gewollt zu sein.

Nun ist damit über weitere Eigenschaften einer solchen „letzten Instanz“ noch nichts gesagt, so wenig, dass das scheinbar exakte Argument am Ende mit nichts weiter als einer beliebig auszufüllenden Leerstelle aufwartet. Die satirische Reaktion auf die „intelligent design“-Theorie hat diese Schwäche sofort ausgenutzt, um die entsprechende Position mit einer Karikatur zu besetzen: dem fliegenden Spaghettimonster. Aber auch ohne eine solche reductio ad absurdum bleibt noch die Frage, ob uns die Figur eines solchen eigenschaftslosen Universaldesigners etwas angeht, denn einem Gegenstand, von dem nichts als die nackte Existenz ausgesagt werden kann, kann eben diese Existenz mit dem gleichen Recht auch wiederum abgesprochen werden, solange konkrete Eigenschaften anzeigende Signale ausbleiben. Die von Hegel erkannte Identität von reinem Sein und reinem Nichts lässt sich an diesem Beispiel in geradezu idealer Weise illustrieren. Aus der bloßen Möglichkeit oder gar Wahrscheinlichkeit der Existenz eines ersten Urhebers ergibt sich jedenfalls überhaupt nichts.

Das ist unbefriedigend, denn wenn man es vermeiden will, sich im Irrgarten einander widersprechender und von inneren Widersprüchen gekennzeichneter Offenbarungen zu verlieren, so bleibt nichts anderes übrig als der Versuch, aus den Eigenschaften der Welt Rückschlüsse auf die Eigenschaften ihres etwaigen Hervorbringers zu ziehen und gleichsam das Buch der Natur als das wahre Offenbarungsbuch zu lesen. Wenn die Kosmologie, wie gerade gezeigt, sich als einer solchen Untersuchung wenig dienlich erweist, kann nur noch die Beobachtung des Weltausschnitts, den das menschliche Leben bietet, zu für uns bedeutsamen Folgerungen führen. Im Wesentlichen ist dies – das muss leider zugegeben werden – der Weg Heideggers, der im Dasein, dem fragenden Seienden, dasjenige Seiende ausmacht, dem es um sein eigenes Sein und mit diesem um den „Sinn von Sein“ überhaupt geht. Die folgende Parabel versucht ein Konzentrat des Ergebnisses einer phänomenologischen Betrachtungsweise zur Diskussion zu stellen, die dieser Linie folgt.

Der Schütze auf dem Dach

Theologische Parabel

Das Leben ist ein Würfelspiel,/Wir würfeln alle Tage./Dem einen gibt das Schicksal viel,/Dem andern Müh’ und Plage.

Soldatenlied

Wahllos schlägt das Schicksal zu,/Heute ich und morgen du.

Freddy Quinn

As flies to wanton boys, are we to the gods; /They kill us for their sport.

William Shakespeare, King Lear

Stellen wir uns einen großen freien Platz vor, umgeben von geschlossenen Häuserreihen. Der Platz, ein Marktplatz, ein Forum in der herkömmlichen Bedeutung, kann durch ein Tor betreten werden. Es gibt auch ein Ausgangstor, aber das ist jetzt geschlossen, und die Türen der Häuser sind es auch. Der Platz ist voller Menschen, die zwischen den Buden und Ständen umhergehen. Hier werden Waren angeboten, mehr oder weniger lebenswichtige Güter, kleine Handwerksbetriebe stellen unter freiem Himmel nützliche Gegenstände her, Gaukler treten vor Publikum auf, Volksredner stehen gestikulierend auf Kisten.

Auf einem der Dächer der umgebenden Häuser befindet sich ein MG-Nest. Die Waffe lässt sich nach Bedarf auf Dauerfeuer oder Einzelfeuer einstellen. Der Schütze nimmt seine Tätigkeit auf. Er lässt die Zieleinrichtung über die wogende Menge schwenken. Dann und wann drückt er ab. Spielerisch, absichtslos, ohne System. Schüsse, mal gezielt, mal mit geschlossenen Augen abgegeben. Dann und wann Maschinengewehrgarben, willkürlich über die Menge gestreut.

Wenn es ganze Menschengruppen niedermäht, reagiert die Menge natürlich als Menge, panisch, wie anders? Aber wenn sich die Situation wieder beruhigt hat, nur noch einzelne Geschosse einschlagen und auch nicht alle treffen, geht das Leben weiter. Alles geht seinen Gang, in aller Vorsicht zumeist, aber bisweilen auch ohne dass man den Gedanken hat, im nächsten Moment getroffen werden zu können. Wer arbeitet, muss ja auch auf seinem Posten bleiben. Wer dringend etwas benötigt, muss den Stand suchen, wo er es kaufen kann. Und wer die Aufmerksamkeit der anderen braucht, wird ihrer nicht teilhaftig werden, wenn er in Deckung geht.

Die Schüsse, die ihr Ziel treffen – wenn man von Zielen überhaupt sprechen kann – , sind nicht alle unbedingt tödlich, jedenfalls nicht gleich. Es gibt „saubere Schüsse“ und zeitversetzte Mehrfachtreffer mit unterschiedlichem Effekt. Man muss die Wirkungen der Geschosseinschläge nicht in allen Einzelheiten ausmalen. Dergleichen ist bekannt genug. Nicht alle Verwundeten werden versorgt. Manchen kann aber geholfen werden, wenn auch nicht endgültig; der Schütze verfügt über mehr Munition, als Personen auf dem Platz sind. Allen ist es bestimmt, irgendwann unter seinen Schüssen zu fallen. Die Toten werden von den Überlebenden in den einzigen offenen Hauseingang geschafft, aus den Augen, aus dem Sinn. Für die Lebenden ist dort kein Platz. Und wer wollte sich auch unter lauter Toten aufhalten?

Das Ganze ist ein Zustand, an den man sich gewöhnen kann. Wer nicht weiß, ob er der nächste ist, wird gerade das ja nicht unbedingt glauben wollen. Man hat also in gewisser Weise Zeit. Mit der muss man etwas anfangen, und die Zeit sollte einem nicht auf zu unbefriedigende Weise vergehen. Sonst könnte man ja gleich versuchen den nächsten Schuss einzufangen. Was bleibt zu tun für ein Glück unbekannter Dauer? Paare können sich in gewisse Buden zurückziehen und dort der Liebe pflegen. Nun gut, man wird das nicht immer so nennen können, aber einander das geben, was draußen nicht zu haben ist, ist wahrhaftig nicht nichts. An einigen Ständen kann man Schnäpse in sich hineinschütten, bis man, wenn es einen trifft, den Einschlag schon nicht mehr spürt. Die Zufriedenheit des Käufers mit der Ware kann ein rasches Ende finden, muss es aber nicht. Doch zwischen dem Ende der Zufriedenheit und dem tödlichen Treffer kann auch noch einige Zeit verstreichen. Vielleicht sind die glücklicher, denen es gelingt, Verwundeten oder vom nächsten Schuss Bedrohten in vorläufige Deckung zu helfen. Oder Volksredner, denen es gelingt, auf Möglichkeiten hinzuweisen, den nächsten Schüssen wenigstens vorübergehend auszuweichen. Oder Gaukler, die vorspielen, wie man stehen, kauern oder liegen muss, um kein zu auffälliges Ziel zu bieten. Vielleicht finden sie dankbares Gelächter und beglückten Applaus.

Und der Schütze? Er hat über die da unten alle Macht der Welt. Non est potestas super terram quae comparetur ei. Er kann sich allmächtig fühlen. Wie Gott. Man darf sich fragen: Kann er ein Gegenstand der Verehrung sein? Hat es, wie die Dinge nun einmal liegen, einen Sinn, ihn um Schonung zu bitten? Wird jemand, der vorübergehend verschont blieb, ihm dafür dankbar sein müssen? Für den, der die anderen hat fallen sehen, würde Verehrung Verrat, flehentliches Bitten Würdelosigkeit und Dankbarkeit eine Art Bestechlichkeit bedeuten.

Genug der Theologie. Die Theodizee kann nur dem Ungläubigen gelingen. q.e.d.

Kommentar

Man kann dieser kleinen Parabel Einseitigkeit vorwerfen. Vielleicht hilft ein anderes Bild weiter. Beschrieben wurde gewissermaßen der Haken. Über den Köder wurden wenig Worte verloren. Der Fisch kann vom Köder für eine längere oder kürzere Zeit Stück für Stück genussvoll herunterbeißen – bis er an den Haken gerät und es ihn aus seinem Element reißt. Aber auch dieses Bild ist schief: Ein absichtsvolles oder sadistisches Verhalten sollte die Parabel gerade ausschließen. Zunächst einmal sollte sie etwas Bekanntes und wenig Neues verdeutlichen: dass das Theodizee-Problem auf der Basis des Glaubens an einen persönlichen Gott nicht lösbar ist; der Widerspruch zwischen Allmacht und Gerechtigkeit ist angesichts der Frage nach der Herkunft des Übels nicht aufhebbar.

Die Idee eines sadistischen Gottes ist aber genauso unsinnig wie die eines gütigen, gerade, weil es nicht nur das Übel gibt, sondern auch sein Gegenteil. Wenn der Schütze in der Parabel also weder gute noch böse Absichten verfolgt, bleibt nicht mehr übrig als spielerische Gleichgültigkeit, und damit fällt die Idee eines persönlichen Gottes. Die Handlungsresultate eines gleichgültigen Spielers wären notwendig kontingent: sie könnten so oder anders ausfallen oder auch ganz ausbleiben. Innerhalb der wie auch immer zustande gekommenen naturwissenschaftlich beschreibbaren Gesetze erfolgt die Verteilung von Glück und Unglück nach dem Zufallsprinzip.

Die conditio humana ist das Feld, auf dem Kontingenz sich am augenfälligsten zeigt. Wer keinem abstrusen Wunderglauben anhängt, muss zugeben, dass sie im Bereich des Menschlichen ohne irgendeinen Rest höherer Teleologie gegeben ist. Darum kann das kosmologische Argument auf diesen Bezirk nicht ausgedehnt werden.  Sein Geltungsanspruch lässt sich dann aber überhaupt nicht mehr aufrecht erhalten, denn total, wie er ist, lässt er keinerlei Ausnahme zu: Das kosmologische Kartenhaus fällt in sich zusammen. Wer dergleichen baut, vergeht sich an den Grundsätzen logischer Plausibilität und empirischer Wahrscheinlichkeit. Jenseits dieser Prinzipien gilt die freudsche Tautologie: Die Unwissenheit ist die Unwissenheit. Allein aus ihr die Notwendigkeit eines Glaubens zu folgern, ist, wie bereits gezeigt, schon darum nicht möglich, weil ein solcher Glaube keinen Inhalt hätte.

Die Konsequenz aus diesem Gedanken muss nicht unbedingt „absurdistisch“ ausfallen. Man kann die Tatsache des Absurden anerkennen, ohne vor ihr zu kapitulieren. Voraussetzung eines derartigen „Never surrender!“ wäre das Bekenntnis zur Diesseitigkeit und die Absage an eine spiritualisierte, aber im Kern viehische Duldung des Unerträglichen. Eine solche  Haltung verwirklicht sich affirmativ in dem Bestreben, dem Sumpf der Kontingenz durch Trockenlegung bewohnbare Teile abzugewinnen. Wer die Erde im gegenwärtig herrschenden  Zustand vorfindet und ihr dennoch treu bleiben will, muss den Himmel den Engeln und den Spatzen überlassen.

Die Idee eines von göttlicher Liebe durchwaltetes Universums ist wenig überzeugend. Die Menschen verdanken es sich sich selbst, wenn trotz allem so etwas wie Liebe in der Welt vorkommt. Ein persönlicher Gott ist nicht weniger ein Mythos, als es die Götterhimmel der polytheistischen Religionen waren, deren Bewohnern realistischerweise nicht selten auch unliebenswürdige Eigenschaften zugeschrieben wurden. Mit Mythen wird man nie ganz fertig, aber sie sind nach etlichen Jahrtausenden Menschheitsgeschichte nun endgültig nicht mehr dazu da, dass an sie geglaubt wird. Sie sind aus bildhaftem Denken hervorgegangen, und Bilder werden wir immer brauchen. Aber die Tatsache, dass wir nur beiderseits der Grenze zwischen dem Reich der Bilder und dem Reich der Begriffe leben können und darum ständig die Grenze wechseln müssen, kann die Quelle verheerender Missverständnisse sein, vor deren potenziellen Nutznießern man sich hüten muss.

Ein Verlust der Bilder wäre freilich beklagenswert. Man darf nicht vergessen, dass die Religionen große Kunstwerke möglich gemacht haben, wie sie immer, trotz allem, was sie angerichtet haben, auch Quellen sozial fruchtbarer Energie gewesen sind. Man sollte darum versuchen, sie selbst wie große Kunstwerke zu betrachten. Das scheint die einzige Möglichkeit zu sein, an ihnen zu bewahren, was unverlierbar sein sollte: die mythische Mahnung an die Spannung zwischen der Unverständlichkeit der Welt und dem Bedürfnis zu verstehen. Die Religionen müssten lernen, die eigenen Spuren als Dokumente eines Scheiterns zu begreifen, das seinerseits auf ein unvollendetes Menschheitsprojekt verweist.

Es gab in der Geschichte des Denkens Versuche, die Menschen mit einem unpersönlichen Weltgesetz zu versöhnen, in der europäischen Antike etwa in der Stoa und im Osten beispielsweise im Taoismus. Der durch diese Lehren direkt oder indirekt vermittelte Pantheismus ist, wie Schopenhauer schreibt, „ein höflicher Atheismus“. Vielleicht ist diese Höflichkeit eine Tugend, die fehlt. Einem solchen Mangel Vorschub geleistet zu haben wird man aber kaum den Ungläubigen vorwerfen können.