Archiv für September 2009

Lebensverneinung

Donnerstag, 17. September 2009

Bevor Sir Walter Raleigh seinen Kopf auf den Richtblock legte, soll er gesagt haben: „Eine bittere Medizin, aber sie hilft gegen alle Krankheiten.“ Mit diesem Ausspruch sicherte sich der in der Geschichtsschreibung abwechselnd als Seeräuber und Seeheld titulierte Todeskandidat einen tadellosen Abgang. Das Muster lieferte ihm die Stoa, die mit ihrem respice finem die reflektierte Lebenspraxis seit fast zwei Jahrtausenden dominiert hatte. Die am Ende eingenommene Haltung durfte nicht den Anspruch dementieren, mit dem das Leben zuvor gelebt worden war. Vielmehr wurde erst jetzt in ein kunstvolles Gewölbe der Schlussstein eingesetzt, der es zusammenhielt. Der Bau wurde durch den Schlussstein auch dann geadelt, wenn das bis dahin verwendete Baumaterial minderer Qualität war. Marlowes Edward II., Shakespeares Richard II. und Websters „Duchess of Malfi“ lassen den Zuschauer angesichts eines blutigen, aber nicht unwürdigen Endes verzeihen, was zu diesem Ende führte.

Die stoische Kunst des Sterbens war Teil einer Lebenskunst. Vor vierhundert Jahren wäre niemand auf den Gedanken gekommen, sie von diesem Hintergrund zu lösen. Das zwanzigste Jahrhundert führte auch in diesem Punkt einen zweifelhaften Fortschritt herbei. In seinem 1983 erschienenen Essay „Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht“ unternahm es Ulrich Horstmann als eine Art Epigone weltverneinender Philosophen des 19. Jahrhunderts, die Konsequenzen eines pathozentrischen Weltbildes, das für Raleigh und seine Zeitgenossen noch eine ironische Anmutung gewesen sein mochte, über die bis dahin gemeinhin respektierten Grenzen hinauszutreiben und zu totalisieren. Die Ungeheuerlichkeiten der Menschheitsgeschichte resümierend bestreitet Horstmann nicht nur allem bewussten Leben das Daseinsrecht; er dehnt sein Verdikt auf alles aus, was ein zentrales Nervensystem besitzt. Der Schmerz ist nur aus der Welt zu schaffen, wenn man das Leben abschafft und den Kollateralschaden für das bloß Organische unterhalb des Beseelten in Kauf nimmt. Horstmann glaubt eine dem Leben innewohnende Tendenz zur Selbstaufhebung ausmachen zu können, ruft aber nichtsdestoweniger dazu auf, den unvermeidlichen Prozess der Selbstvernichtung der menschlichen Art mit allen ihren Nebenwirkungen durch die zielbewusste Herbeiführung des Endes abzukürzen.

Es fragt sich, ob dieser Aufruf an eine für den Autor im Prinzip längst erledigte Subjektivität noch ernst gemeint sein kann. Aber die Vorstellung, dass das Unabwendbare einen Vollstrecker benötigt, der es zu seiner Absicht macht, ist unter den zahlreichen Paradoxien des hier skizzierten Gedankengangs nicht die entscheidende.

Das schon mit dem Titel „Das Untier“ gefällte Urteil über die Spezies Mensch verweist auf enttäuschte Erwartungen, die sich einmal an die Idee der Humanität geknüpft haben. Insofern ist es also nur möglich, ein solches Urteil zu fällen, wenn man diese Idee als Maßstab verwendet. Für die Umsetzung der angeblichen Konsequenzen aus dem mittels dieses Maßstabes gefällten Urteil kann man aber gerade diesen nicht plötzlich suspendieren. Oder drastischer ausgedrückt: Wenn der Mensch der Aussatz des Planeten ist, wird es wohl Zeit, dass der Planet wieder gesundet, dass er sauber wird und der Mensch von ihm verschwindet. Aber mit diesem Säuberungsprogramm haben gerade die schon einmal angefangen, die in der Beweisaufnahme gegen die Spezies als deren abstoßendste Vertreter namhaft gemacht werden konnten: die im von Gunnar Heinsohn 1998 herausgegebenen „Lexikon der Völkermorde“ aufgeführten „Megatöter“. Auschwitz, der Gulag, die Kulturrevolution oder die Massaker in Ruanda – alles das war dann nur ein Schritt in die richtige Richtung (So klingt es bekanntlich im Jargon derer, die sich von alledem vehement distanzieren, um unbewusst und insgeheim die beklagte Entwicklung voranzutreiben). Kurz: Wer allen Ernstes für die Annihilierung der Menschengattung argumentiert, gibt Hitler, Stalin und Konsorten Recht. Er macht sich mit ihnen gemein.

Wenn man nicht von der massenhaften Vernichtung von Menschenleben her argumentiert, sondern von der voranschreitenden Naturzerstörung her, wird die Sache auch nicht überzeugender: Wer den Ast absägt, auf dem er sitzt, tut dem Baum einen Gefallen, denn der wird den Idioten mit der Säge, der sich dabei den Hals bricht, überleben. Also sind Vergiftung und Ressourcenvergeudung geradezu Pflicht, denn sie sind Teil eines Selbstmordprogramms, dessen Resultat nur allzu wünschenswert wäre. Aber für wen? Und wie ließe sich eine solche Pflicht noch begründen?

Großformatige Bildbände und am Computer hergestellte Fernsehfilme nehmen neuerdings das Ergebnis der skizzierten Vernichtungsphantasien vorweg, indem sie zeigen, wie „die Welt ohne uns“ einmal aussehen mag: An den Resten bekannter Kulturdenkmäler erkennbare Metropolen werden von einer üppigen Vegetation überwuchert oder zerfallen in von allem Leben befreiten Wüsteneien. Aber noch gibt es Betrachter, die sich an solchen Visionen delektieren sollen. Sie können das Bild genießen, weil es die entsprechende Realität (noch) nicht gibt. Der Betrachter wird zu einem durch Artgenossen ungestörten Zukunftstouristen.

Die entsprechenden Identifikationsfiguren bietet die Science-fiction: Richard Mathesons mehrfach verfilmter Roman „I Am Legend“ hat den letzten Menschen auf Erden zur Hauptfigur. Dieser kann über die verbliebenen Zivilisationsreste wie über einen Selbstbedienungsladen verfügen, in dem alles gratis ist. Und es ist alles auch nicht ganz so gemeint: Der letzte Mensch ist nämlich gar nicht allein. Die ihm feindlichen Mutanten werden ihn überleben. Zumindest eine Abart von ihnen ist menschlich genug.

Es scheint, als solle selbst die Fiktion eines Endes allen menschlichen Lebens Genuss bereiten und das Leben bereichern. Es ist ironischerweise ein Witz, der sich diesem Mechanismus wenigstens partiell verweigert: Der letzte Mensch erträgt seine Einsamkeit nicht mehr, stürzt sich von einem Hochhaus und hört, an einem offenen Fenster vorbei fallend, das Telefon läuten. Der Selbstmörder hat also durch seinen Sprung die Chance vertan, die Kontinuität des Lebens aufrecht zu erhalten. Nur wenn man es so auffasst, kann hier von schwarzem Humor gesprochen werden, denn die Erleichterung darüber, dass der Sturz vom Hochhaus nicht rückgängig zu machen ist und eine unerwünschte Entwicklung nicht wieder von vorn beginnen kann, ist nicht auf die beabsichtigte makabre Weise komisch. Der Selbstmord als Panne ist es sehr wohl. Insofern hätte sich gerade unter den zunächst noch unbekannten Voraussetzungen dem vermeintlich letzten Menschen vor dem Suizid die moralische Frage nach dessen Verantwortbarkeit gestellt. Der Witz überspringt sie, ohne sie zu tilgen.

Auch Horstmann entwirft in seinem Essay Visionen, die den Computersimulationen in den genannten Bildbänden und Filmen gleichen. Der unbestreitbar wahre Satz, dem zufolge man den Tod nicht erlebt, wird dabei ignoriert. Das Auge des Betrachters sitzt in einem Körper, der den eigenen Tod überlebt hat. Das Ende aller Subjektivität kann nur vorgestellt werden, wenn es ein Subjekt gibt, das eine solche Vorstellung in sich erzeugt und sie als Wunscherfüllung halluziniert.

Das anthropofugale Subjekt flieht nicht nur die Menschheit, sondern gibt sie mitsamt aller leidensfähigen Natur zum Abschuss frei. Seinen Standpunkt bezieht es jedoch nicht jenseits aller Normativität; es negiert den Humanismus unter humanistischen Voraussetzungen. Subjektivität ist ohne Normativität nicht denkbar: Ein Subjekt, das nichts gutheißt oder ablehnt, ist kein Subjekt, und Billigung oder Ablehnung beabsichtigter oder vollzogener Handlungen ist anders denn als Moment von Intersubjektivität herstellenden Prozessen nicht denkbar.

Horstmann stimmt in die modische Kritik auf Subjektivität insistierender humanistischer Normen ein, weil sie selektiv seien. Es heißt, sie schlössen den Anderen als angeblichen Unmenschen zusammen mit allem Nichtmenschlichen aus. Eine solche Kritik stellt sich als unterscheidende Metakritik des Unterscheidens dar. Sie ist also ohne Selbstwiderspruch nicht möglich und entzieht sich darum einer rationalen Auseinandersetzung. Das Ende allen Unterscheidens in Form der totalen Vernichtung herbeizusehnen, mag einer bestimmten emotionalen Verfassung entsprechen. Diese kann als Symptom einer historischen Entwicklung betrachtet und hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung analysiert werden. Man würde dann über eine Tatsache sprechen, nicht aber eine Stimme im rationalen Diskurs vernehmen, die auf derselben Ebene über Tatsachen spricht. Irrationalität kann Gegenstand der Auseinandersetzung sein, aber diese wäre beendet, wollte man jene an ihr beteiligen. Horstmann verlässt die Ebene vernünftiger Argumentation, wenn er sich auf die Folgen menschlichen Tuns beruft, die sich angesichts des erreichten Standes einer Evolution der Moral als verurteilenswert erweisen, um dann die Vollstreckung des Urteils mit grimmigem Behagen zu antizipieren. Man kann sich nicht des anthropologischen Fundaments moralischer Normensysteme entledigen, wenn man den Menschen als Untier abtun will. Die Herstellung von Differenzlosigkeit durch Unterscheidung ist schon eine merkwürdige Operation.

Wäre andererseits aber nichts mehr als gut oder böse zu bezeichnen, sondern alles nur – um mit Gottfried Benn zu sprechen – „rein phänomenal“, so gäbe es nichts mehr, was zu wünschen, zu fordern, zu fürchten oder abzuwenden wäre. Man hätte dem blinden Willen zum Leben das Feld zu überlassen und ihn in seiner Entzweiung, seinen Widersprüchen und seinen immer wieder katastrophalen Konsequenzen hinzunehmen. Eben dies will der Annihilismus nicht, weil er entgegen der eingenommenen Attitüde nicht nihilistisch genug ist. Seine Fixierung auf die allem Abhilfe schaffende, mit allem Leben ein Ende machende Lösung, beruht  – uneingestandenerweise! – auf einer spezifischen Art von Hypermoral. So erweist sich die nihilistische Coolness vortäuschende anthropofugale Haltung als rhetorische Dekoration eines humanistischen Katzenjammers.

Sie kann nicht zuletzt deswegen so gesehen werden, weil sie nicht auf Gründe verzichtet. Wer Gründe anführt, hält sich immer noch an die systembildenden und stabilisierenden Normen der logischen Folgerichtigkeit. Ihnen ist schwer zu entrinnen. Versucht hat es der österreichische Dichter Konrad Bayer, der während seiner letzten Tage alles, was seine Freunde vorzubringen hatten, zurückwies, weil es „ja nur ein Argument“ sei. Seinem Suizid kann man aufgrund der voraufgegangenen Abkehr von elementaren Prämissen des Gattungslebens Konsequenz nicht absprechen, aber gerade das spricht dann auch wieder gegen ihn: Sich aus einer Welt zu schaffen, die nur durch Kommunikation eine Welt für uns ist, war „nur“ konsequent.

Es fragt sich, ob jemand, der sich auf Begründungen einlässt, sich noch auf antihumanistischem Terrain befindet. Gründe und Rechtfertigungen muss nur jemand artikulieren, der nicht allein ist. Sie sind immer für den jeweils anderen. Der ist immer ein Vertreter einer Spezies, für die eine rationale Verständigung eine der Voraussetzungen ihres Überlebens bildet. Wer keine Gründe geltend machen will, muss auch das Überleben des Anderen nicht mehr wollen und kann zur physischen Attacke übergehen. Wer den Anderen überzeugen will, muss ihn als jemanden betrachten, der ihm selbst für das eigene Überleben ein Helfer ist. Gründe stellen Gemeinsamkeit her und sind der Ausweis des Gattungswesens.

Ob der Mensch nun als Gattungswesen zum Verschwinden verurteilt ist oder nicht: Er kann sich ein auf die völlige Vernichtung hinauslaufendes Urteil nicht kollektiv zu eigen machen. Die Vollstreckung würde einer kollektiven Annahme immer vorgreifen, denn sie müsste entweder konsensual ausgehandelt werden oder sie würde die letzte Amtshandlung des Wahnsinnigen am roten Knopf sein. Als bloßes Produkt demokratischer Mehrheitsbildung wäre die nicht mehr einstimmige Annahme eines Urteils, von dem alle betroffen wären, aber nicht legitim; der von einem Teil erstrebte, aber nicht für alle erstrebenswerte Zustand des Nichtseins wäre ja auch für den Einzelnen erreichbar, ohne dass dabei der Lebenswille der anderen missachtet würde. Schopenhauers Nachweis, dass gerade der Selbstmord keine Form der Verneinung des Willens sein kann, verschließt dann das letzte Schlupfloch der physischen Exekution eines lebensverneinenden Urteils. Und auch die von ihm vorgeschlagenen Formen der Verneinung des Willens lassen am Ende Raum, das Leben – solange es dauert – zu respektieren und sein kaum zu entschlüsselndes Geheimnis anzuerkennen.

Leben ist aber keine abstrakte Angelegenheit; man lebt als etwas Bestimmtes, als Exemplar einer Art, und innerhalb der eigenen Art sogar als jemand. Den Menschen „aufzulösen“, wie Lévi-Strauss es formuliert, kann nicht heißen, ihn zu liquidieren. Analyse bringt zwar die selbstproduzierten Konstruktionspläne der Art zum Vorschein, aber dadurch diese selbst noch nicht automatisch zum Verschwinden. Und die gegenseitige Erwartung, dass personale Identität respektiert werden möge, ist insofern real, als sie wirksam ist und sich in ihrer Wirksamkeit erhält. Der theoretische Antihumanismus lässt sich nicht in Praxis übersetzen. Aber schon die logischen Binnendefekte von Horstmanns Essay sind evident. Einerseits will er auf Absolutes hinaus. Andererseits ergibt sich aus der Aufkündigung der Solidarität vor dem Tode und damit eines unausgesprochenen menschlichen Minimalkonsensus ein grenzenloser, alles möglich machender Relativismus. Der wiederum entzieht auch der apodiktisch verkündeten Unheilsbotschaft jede Basis.

Der Ton der Verkündung ist zudem zu genüsslich, als dass man dem Verkünder das Bekenntnis abnehmen könnte, er reihe sich mit seinen Gedanken in die Tradition der Melancholie ein. Ein Nichteinverstandensein mit der Welt ohne etwas, mit dem man einverstanden sein könnte, ist ein Kunststück, das auch Horstmann nicht gelingen kann. Das Mindeste, was man von ihm hätte erwarten können, wäre das gewesen, was Strindberg in seinem „Traumspiel“ Indras Tochter sagen lässt: „Es ist schade um die Menschen.“ So bleibt vom Melancholiker nur die äußere Hülle, in die er sich in der Geschichte der Melancholie bisweilen kleidete: die des Dandys.