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Ein Souvenir

Montag, 12. Mai 2014

Ein unscheinbares Objekt auf dem Fenstersims meines Wohnzimmers erregt bisweilen die Aufmerksamkeit meiner Besucher: ein Hohlzylinder aus dunklem Metall, etwa fünf Zentimeter hoch, mit dicker, regelmäßig schlitzförmig durchbrochener Wand und einem lichten Durchmesser von etwa neun Millimetern. Die wenigen männlichen Personen in meinem Bekanntenkreis, die das zweifelhafte Vergnügen hatten, Soldat spielen zu müssen, identifizieren ihn sofort als Zubehörteil eines G3-Gewehrs: einen Mündungsfeuerdämpfer. Die Funktion ist mit dieser Bezeichnung schon ausreichend definiert. Aber wie es kam, dass mir aus meiner Militärzeit dieses Souvenir blieb, ist es wert erzählt zu werden.

Ich war ein miserabler Soldat. Als ich mich einmal besonders ungeschickt anstellte, bekam ich von meinem Zugführer in breitem Hunsrücker Dialekt das Kompliment zu hören: „Sie sinn de beste Mann vun de annere Seit!“ Dass ich damit später manchmal kokettierte, kommt mir heute nicht mehr ganz gerechtfertigt vor, wenn ich bedenke, dass das hier zu berichtende Vorkommnis beinahe tödlich verlaufen wäre.

Trotz meiner soldatischen Defizite hätte ich es zum Reserveoffizier bringen können, denn ich hatte Abitur. Der Aufstieg erforderte aber gewisse Anstrengungen. Die rissen mich aus einem Kasernenalltag, der nach Abschluss der Grund- und Spezialausbildung allmählich angefangen hatte erträglich, ja fast gemütlich zu werden. Zum wieder verschärften Herumkommandiertwerden trat jetzt noch das Üben des Kommandierens – unter Aufsicht eines Vorgesetzten, dem keine Unkorrektheit entging.

Die angehenden Reserveoffiziersanwärter waren in einem Zug zusammengefasst und hatten ein umfangreiches Programm zu durchlaufen. Dazu gehörte ein nächtlicher Orientierungsmarsch. Während wir auf den Stuben die dazu befohlene Ausrüstung in unser Sturmgepäck stopften, hatten unsere knappen Gespräche nur ein Thema: Die von den Ausbildern geplanten „Einlagen“: Wir würden auf dem Nachtmarsch ausgiebig Gelegenheit erhalten, unsere Kampfanzüge mit Lehm einzusauen und unsere Gewehre abzuschießen. Das war nicht zu vermeiden. Sich die Umständlichkeit der anschließenden Reinigungsprozeduren durch schonendes oder abstinentes Verhalten zu ersparen, würde einem nur Ärger einbringen.

Das unbeliebteste Stück der Ausrüstung, die Gasmaske, hatten wir als Instrument von mancherlei Schikanen kennengelernt. Sie musste mit. Das ließ erwarten, dass sie auch zum Einsatz kommen würde. Ich ersetzte also meine normale Brille durch die Maskenbrille. Sie verwandelte mich in den traurigen Helden von Borcherts „Draußen vor der Tür“: Ich sah damit aus wie Beckmann. Schon das Original war kein Lacherfolg.

Ein Letztes blieb zu tun, als wir unsere Gewehre in Empfang nahmen: Der Mündungsfeuerdämpfer war vom Lauf abzuschrauben und durch das Manöverpatronengerät zu ersetzen. Dessen Funktion bestand darin, den Lauf vorne zu verschließen und so die sachgerechte Verwendung der Übungsmunition zu ermöglichen. Anders würde es keinen Rückstoß geben, und der Selbstlademechanismus der Waffe würde ausfallen.

Wir erledigten unsere Vorbereitungen, gehetzt wie immer. Dann waren wir bereit. Gruppenweise und ohne unsere Ausbilder setzten wir uns in unterschiedlicher Richtung in Bewegung. Wir waren nicht nur physisch schwer beladen, sondern auch mit dem Vorgefühl des unvermeidlichen Zwischenfalls. Die Kameraden der Stammkompanien, die abkommandiert waren, um uns unterwegs die Hölle heiß zu machen, waren Mannschaftsdienstgrade wie wir. Aber wir würden es vielleicht bald nicht mehr sein. Genau genommen machten wir auf ihre Kosten Karriere. Sie schlugen sich die Nacht um die Ohren, und wir kriegten irgendwann einen Stern. Wir konnten also auf unserem Weg mit einer rauen, aber herzlichen Begrüßung rechnen.

Es war keine helle Nacht. Die Wolkendecke ließ kein Mondlicht durch. Die Gegend war uns oberflächlich vertraut, aber die Route war mit Kompass und Karte bei schwacher Taschenlampenbeleuchtung nicht leicht zu erschließen. Irgendwann müssen wir den Weg verloren haben, denn wir fanden uns plötzlich in einem Eisenbahntunnel wieder. Erleichtert, mit ihm eine kartographierte Orientierungshilfe entdeckt zu haben, hofften wir, am anderen Ende wieder auf die vorgesehene Marschroute zu stoßen. Die Bahnstrecke war eingleisig, und der Tunnel war eng. Zwischen Gleise und Tunnelwand passte knapp ein Mann mit Gepäck. Aber in der Nacht schien hier kein Zug zu verkehren. Wir durchmaßen im Gänsemarsch den Tunnel, ohne Schaden zu nehmen.

Wir müssen dann wohl wieder auf den vorgeschriebenen Weg gestoßen sein, denn plötzlich explodierte vor uns mit dumpfem Knall eine Tränengasgranate. In einem Gebüsch links vom Weg setzte ein mörderisches Geballer und Geknatter ein. Augenblicklich warfen wir uns in den Dreck und fingerten unsere Gasmasken aus den Futteralen. Als ich mir meine Maske glücklich übers Gesicht gezogen hatte, war ich zwar erleichtert, weil ich die beißenden Dämpfe nicht mehr einatmen musste, spürte aber neues Ungemach: Die Gläser meiner Maskenbrille beschlugen und ich war blind wie ein Grottenolm.

Woher genau kam jetzt das Feuer? Wo hatten sich die Kameraden hingeworfen oder Deckung gesucht? Wohin hatte ich zu zielen? Die Schüsse, mit denen der Überraschungsangriff eingesetzt hatte, gaben nur grob die Richtung an. Nachdem meine Kameraden begonnen hatten, das Feuer zu erwidern, nahm mir der Gefechtslärm endgültig jede Orientierung. Aber ich wusste: Sich an der Schießerei nicht zu beteiligen, kam nicht in Frage. Blind, wie ich war,  hielt ich mein Gewehr in die Richtung, in der ich die Angreifer vermutete, und drückte ab. Dass ich keinen Rückstoß mehr spürte, nachdem ich den Hebel auf Dauerfeuer gestellt hatte, fiel mir nicht weiter auf.

Bald hatten die abkommandierten Wegelagerer ihre Munition verschossen, die Ballerei hörte auf und aus dem Gebüsch waren launige Sprüche zu vernehmen. Wir erhoben uns aus den schlammigen Pfützen des Fahrwegs, auf dem uns der Überfall ereilt hatte, und vergewisserten uns, dass sich die Tränengaswolken verzogen hatten. Dann verstauten wir unsere Masken. Wir wünschten dem schadenfrohen „Überfallkommando“ angenehme Nachtruhe und setzten unseren Weg fort. Meine Klarsicht gewann ich allmählich zurück.

Im Morgengrauen trafen wir wieder in der Kaserne ein. Der Marsch war zu Ende. Als wir uns an die Reinigung unserer Ausrüstung machten, stellte ich fest, dass die Mündung meines Gewehrs frei lag. Das Manöverpatronengerät fehlte. Das Gewinde, auf das ich nun den Mündungsfeuerdämpfer wieder hätte schrauben müssen, war beschädigt.

Ich musste Verlust und Schaden melden. Zweifelsohne war ich dafür verantwortlich. Ich hatte das Manöverpatronengerät schief aufgesetzt und falsch verschraubt. Der erste Schuss hatte es vom Lauf gerissen und die Sicherungsfeder hatte quer durch das Gewinde eine tiefe Rinne gezogen. Dadurch war praktisch das ganze Gewehr unbrauchbar geworden. Der Kompaniechef, bei dem ich anzutreten hatte, brüllte mich erwartungsgemäß an und stellte mir in Aussicht, dass ich den Schaden würde ersetzen müssen.

Das ließ mich kalt. Ich verließ das Dienstzimmer des Kompaniechefs so gleichmütig, wie ich es betreten hatte. Doch meine Fassung sollte ich noch verlieren. Auf dem Flur traf ich auf einen Kameraden, der ebenfalls Teilnehmer des Nachtmarsches gewesen war. Was er mir zu sagen hatte, fegte mich vor Schreck beinahe von den Füßen. Er klagte über ein nur langsam nachlassendes Pfeifen im Ohr. Etwas war während des Gefechts dicht an seinem Kopf vorbei geflogen…

Als ich mein Gewehr blind und ziellos einsetzte, hatte sich infolge meiner Unachtsamkeit beim Verschrauben das Manöverpatronengerät in ein Geschoss verwandelt. Es hatte meinen Kameraden nur knapp verfehlt. Das unorthodoxe Projektil hätte um ein Haar seinen Nackenwirbel durchschlagen.

Ich tauschte mein ruiniertes Gewehr gegen ein neues. Ersetzen musste ich den Schaden nicht. Den Mündungsfeuerdämpfer behielt ich. Als Mahnung.

Anders als ich konnte jener Kamerad seine Schultern bald mit dem wohlverdienten Leutnantsstern schmücken. Er setzte seine Karriere auch im Zivilleben fort und stieg bis in die Spitze der deutschen Wirtschaft auf. Sein Ohrgeräusch hat ihn bald nach dem Vorfall wieder verlassen. Bei mir stellte sich erst vor ein paar Jahren ein Tinnitus ein. Er begleitet mich über etwa die Hälfte meiner Tage. Immerhin besser als ein Kopfschuss.