Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, in diesen Sommerferien nach Madrid zu fahren. In der Stadt waren vielerorts umfangreiche Bauarbeiten und Renovierungstätigkeiten aufgenommen worden, und an den Toren zahlreicher Sehenswürdigkeiten hingen Schilder mit der Aufschrift „cerrado“. Kein Wort in einer mir bekannten Sprache macht den Zustand völligen Verrammeltseins anschaulicher.
Trotz alledem ließ sich nicht leugnen, dass ich mich in einer faszinierenden Stadt befand. Ihre schiere Unerschöpflichkeit ließ dem nach Eindrücken begierigen Besucher genug übrig: Der Palacio Real mit seinen Tiepolo-Fresken sowie die Mehrzahl der zahllosen kunstgeschichtlich bedeutsamen Kirchen und Konvente waren immer noch zugänglich. Was aber allein schon den Besuch Madrids unter allen Umständen lohnenswert machte, war der Prado.
Die Kunsterlebnisse bei Tage stellten mich mehr als zufrieden. Ein Problem waren die Abende. Das nach dem vergessenen Nobelpreisträger Jacinto Benavente benannte Theater warb mit einem riesigen Porträt seines Stars: Hier stand abends Francisco Rabal auf der Bühne. Das heißt, er war hier aufgetreten. Die Spielzeit war zu Ende.
Ich sah auf einer etwas heruntergekommenen Operettenbühne hintereinander drei kurze Zarzuelas, deren Flachheit in umgekehrtem Verhältnis zur üppigen figürlichen Erscheinung der Sängerinnen stand. Irgendwo anders ein rührendes Einpersonenstück über die unorthodoxe Frömmigkeit einer alternden Prostituierten und auf einer Studentenbühne eine recht achtbare Inszenierung von Peter Weiss’ „Marat/Sade“. Außerdem blieben noch die Kinopaläste an der Gran Via, immer noch schön in ihrem abbröckelndem Art-deco. So schlug ich mich durch.
Meine Zeit in Madrid war noch nicht ganz abgelaufen, als ich nach dem Ende eines langen Tages in einem Restaurant saß, das unweit des Zentrums, aber etwas versteckt gelegen war. Es war nicht eben überfüllt gewesen, als ich es betreten hatte, und so hatte ich mir, dem uralten Instinkt folgend, einen Tisch an der Rückwand ausgesucht, von dem ich das Lokal gut überblicken konnte.
Ich hatte wohl aus diesem Vorzug keinen Nutzen gezogen, denn als ich aufsah, um den abschließenden café solo zu bestellen, bemerkte ich am Tisch neben dem Eingang einen Mann, der mir vorher nicht aufgefallen war. Er war etwa in meinem Alter, dünn, und die helle, rötlich-blonde Tönung seines Haars bildete einen nur schwachen Kontrast zu seinem Teint, dessen wie von Rost überstäubtes Blassgrau sich in der Färbung von Hemd und Hose fortsetzte.
Ich hätte dieser in ihrer Unauffälligkeit fast durchsichtigen Gestalt keine Aufmerksamkeit geschenkt, hätten sich unsere Blicke nicht getroffen. Unwillkürlich zuckte ich zusammen: Der Ausdruck seiner hellen, eng zusammenstehenden Augen strafte die übrige Erscheinung Lügen. In diesen Augen brannte das Verlangen. Der Mann ließ nicht ab, mich mit zusammengezogenen Brauen anzustarren, angestrengt, fast hypnotisch.
Ich orderte die Rechnung und zahlte hastig. Dann bewegte ich mich Richtung Tür. Der Mann schien bereits gezahlt zu haben, während ich noch meine Mahlzeit verzehrte; kaum dass ich den Ausgang passiert hatte, konnte ich aus dem Augenwinkel durch das Fenster des Restaurants die Bewegung wahrnehmen, die mir verriet, dass er aufgestanden war. Ich hatte mich wenige Meter entfernt, als ich hinter mir schon das schwingende und scheuernde Geräusch der Türflügel vernahm.
Ein Blick über die Schulter zeigte mir den knapp mittelgroßen, schmalen Mann etwa zehn Schritt hinter mir. Kein Zweifel: Ich hatte einen Verfolger. Niemand von den wenigen Passanten unter dem schwachen Laternenlicht der schmalen Straße, in der das Restaurant lag, achtete auf ihn. Der einzige, den seine nervös-zittrige Art sich fortzubewegen irritierte, war ich. Ich muss zugeben, dass sie sich auf mich übertrug. Zum Takt der Schritte, die ich zwischen ihn und mich zu bringen suchte, fand sich wie zum Hohn ein Ohrwurm ein, der Refrain eines Schlagers aus den fünfziger Jahren: „Hinter Ihnen geht einer, /hinter Ihnen steht einer,/ drehn Sie sich nicht um.“
Die Beherrschung, die es erforderte, dem letzten Vers zu gehorchen, brachte ich nicht auf. Mit einem erneuten Blick zurück registrierte ich, dass die Distanz zwischen uns sich verringert hatte. Ich musste aus diesem finsteren und menschenleeren Gassengewirr heraus. Eine Chance, den Verfolger abzuschütteln, hatte ich nur dort, wo ich in der Menge verschwinden konnte, etwa auf der nahe gelegenen Calle de Alcalá, wo um diese Zeit ganz Madrid flanierte.
Der Verkehrslärm wies mir den Weg. Unter der grellen Beleuchtung der hohen Lichtmasten verblassten alle Schatten, wie ich hoffte, auch der, der sich an meine Fersen geheftet hatte. Das Getöse in der breiten Straßenschlucht und das Gedränge auf dem Gehsteig ließen mich erst einmal aufatmen. Ich kam langsamer vorwärts, aber die Masse der abendlichen Spaziergänger bot mir Schutz. Sie musste mein Element werden. Und in ihm wollte ich allein bleiben. Aber zu dieser Masse gehörte immer noch einer, der den Vorsatz zu haben schien, meine Isolierung aufzuheben. Ich konnte feststellen, dass der Blassrostige jetzt seine Geschwindigkeit der meinen anpasste. Er schien unschlüssig, ob er schon den Versuch machen sollte, mich einzuholen.
Was wollte er überhaupt? Was an mir vermochte es derart, seinen Appetit anzuregen? Ich sah keinen Grund, meine Attraktivität zu überschätzen. Die Geschmäcker waren nun einmal verschieden. Seine mir so unangenehme Schlussfolgerung hatte nahe gelegen: Wir waren die einzigen im Lokal gewesen, die jeder für sich allein an ihrem Tisch gesessen hatten. So etwas konnte zu Missverständnissen führen.
Aber was konnte daran missverstanden werden, dass er, errötend oder nicht, meinen Spuren folgte, die ich meinerseits unbedingt verwischen wollte? Sollte ich stehen bleiben und die Sache klären? Einen Antrag könnte ich in meinem unzureichenden Spanisch ablehnen: No quiero. Aber querer heißt auch lieben. Er würde versichern, dass es auf Liebe nicht ankomme. Was ich gegen einen one-night-stand hätte? Ob ich etwas gegen Schwule hätte? Warum bestünde ich so darauf, nicht schwul zu sein? Nein, ich hatte nichts gegen Schwule. Einige meiner besten Freunde… Verdammt, so fingen homophobe Tiraden an… Nein, so würde ich mich nicht verständlich machen können. Noch weniger, wenn ich es überhaupt nicht mit einem Spanier zu tun hätte. Gegen diese unaufhaltsame Zielstrebigkeit im Bunde mit Kannitverstan wäre nicht anzukommen.
Ich spürte während dieser Überlegungen die bohrenden Blicke meines Verfolgers im Rücken. Hinter Ihnen geht einer… Drehn Sie sich nicht um… Das tat ich jetzt auch schon seltener. Dass er mir auf den Fersen bleiben würde, war sowieso klar. Die Menge drängte sich dicht auf dem breiten Bürgersteig, aber ich konnte nicht in ihr untertauchen. Keiner von uns hatte die Möglichkeit, wesentlich schneller vorwärts zu kommen als der andere.
Ich näherte mich der Plaza de Cíbeles, an der sich die Calle de Alcalá und der Paseo del Prado kreuzen. Den Paseo konnte man hier mittels eines Fußgängertunnels unterqueren. Ich hastete zwischen den zahlreichen madrilenischen Nachtschwärmern die Stufen hinunter. Hier unten waren weniger Menschen unterwegs als auf den oberirdischen Gehwegen. In der Mitte der Unterführung blickte ich mich wieder unauffällig um: Der dünne, rostiggraue Mann war immer noch hinter mir, etwa zwanzig Schritt.
Am anderen Ende der Unterführung gab es zwei Treppen: eine Richtung Osten in Fortsetzung der Calle de Alcalá, die andere in der südlichen Richtung des Paseo. Ich entschied mich, meine östliche Richtung beizubehalten und fiel in den Laufschritt. Je zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ich treppauf. Oben angekommen, stürzte ich auf den Treppenschacht zu, der vom Paseo in den Tunnel zurückführte. Das Aufsehen, das ich durch mein halsbrecherisches Abwärtsstolpern erregte, nahm ich in Kauf.
Zum Startpunkt meines plötzlichen Ausbruchsversuchs zurückgekehrt, vergewisserte ich mich, wo mein Verfolger geblieben war. Ich entdeckte ihn auf der obersten Stufe der Treppe, die ich vorhin hinauf gerannt war, jetzt aber wie erwartet in Rückenansicht. Er verhielt seinen Schritt, wandte sich suchend nach rechts, nach links… Hinter Ihnen steht einer,/Drehn Sie sich nicht um! Nicht, bevor ich mich aus Ihrem Gesichtskreis entfernt habe, señor Gris y Óxido!
Im Zickzack, die Entgegenkommenden umrundend, die anderen überholend, nahm ich, so schnell ich konnte, meinen Weg in umgekehrter Richtung durch die Subway.
Als ich den Abend draußen vor einer Bar auf der Plaza de Tirso de Molina bei einem letzten Glas beschloss, beunruhigte mich die Befürchtung, der Gräulich-Rostige könnte plötzlich wieder auftauchen. Aber nicht allein das beschäftigte mich. Ich begann zu grübeln. Vielleicht war ich zu Unrecht über den Ausdruck des schmächtigen rothaarigen Mannes erschrocken. Welche Absichten unterstellte ich ihm überhaupt? Und war ich mir über das, was mich bewegte, von ihm weg bewegte, im Klaren? War ich einer unangenehmen Begegnung ausgewichen oder hatte ich ein interessantes Erlebnis versäumt? Einen Wendepunkt verpasst? Hatte ich einen Abgrund gesehen, wo sich nur das Ende einer Sackgasse aufgetan hatte? Ich hatte ein Schild davor gehängt. Und darauf stand: „cerrado“.