Scientia est cognitio vera sed dubitabilis nata fieri evidens per discursum.
William of Ockham
In seinem großartigen „film noir“ „Touch of Evil“ setzt sich der unvergleichliche Orson Welles als korrupter Polizeidetektiv in Szene. Sein Captain Quinlan ist der definitive „bad cop“. Am Ende des Films schwimmt er tot in einem vermüllten Grenzfluss. Den Nachruf auf den zur Strecke gebrachten Bösewicht sprechen Mort Mills und Marlene Dietrich: „Well, Hank was a great detective all right.“ – „And a lousy cop“.
Beide Urteile haben ihre Berechtigung. Captain Quinlans kriminalistisches Genie sitzt in seinem lahmen Bein. Es sagt ihm, sobald ein Mord geschehen ist, wer der Täter ist. Was das Bein sagt, ist nicht nur für den hinkenden Polizisten unanfechtbar; es entspricht auch regelmäßig dem aktenkundigen Untersuchungsergebnis. Doch den zweiten Teil des Nachrufs hat sich Quinlan mit den zuvor angewandten Investigationsmethoden eingehandelt: Sie bestehen in erpressten Geständnissen, gefälschten Beweisen und Rechtsbeugung in jeder erdenklichen Form. Der charismatische Finsterling macht sich seinen Beruf zu leicht. Charlton Heston in der Rolle seines Gegenspielers, des mexikanischen „good cop“ Vargas, hat dazu den passenden Kommentar: „A policeman’s job is only easy in a police state.“
Der Film ist ein Modell für das Verhältnis zwischen Intuition und diskursiver Rationalität. Wer über intuitive Gewissheit verfügt und es dabei belässt, weiß gewissermaßen etwas, ohne es beweisen zu können. Für die anderen sind Gewissheit und Wissen, soweit sie als intuitiv klassifiziert werden, ein bloßer Glaube. Für diesen bleibt der Glaubende den Beweis schuldig, solange er ihn nicht als ein lediglich für wahr Gehaltenes aufhebt. Dazu müsste er durch die Kombination von Sinneszeugnissen und logischen Operationen etwas herstellen, was als Wissen gelten kann. Die Entsprechung zur Handlungskonstellation in Welles‘ Film liegt auf der Hand: Was dort der kriminelle Verzicht auf allgemein akzeptierbare Untersuchungsmethoden ist, ist im Falle des reinen Beharrens auf intuitiver Erkenntnis der fahrlässige Umgang mit den elementaren Prinzipien der Überprüfbarkeit und der Nachvollziehbarkeit.
Die Fähigkeit zu intuitivem Erkennen ist ein wertvoller Teil unseres evolutionären Erbes. Lebewesen, die nicht darauf programmiert sind, unmittelbar auf die Wahrnehmung schematisierter Muster zu reagieren, tun sich naturgemäß schwer, wenn ihnen eine gegebene Situation schnelle Reaktionen abverlangt. Angesichts des fragmentarischen Charakters ihrer Wahrnehmung müssten die Voraussetzungen einer solchen Reaktion lange uneindeutig bleiben. Intuition lässt uns die aufgenommenen Wahrnehmungssplitter selbständig und spontan zu einem vollständigen Bild der Situation ergänzen, so dass auf dieser Basis schnell gehandelt werden kann.
Ein Archäologe bestimmt mit Hilfe von ein paar Scherben die ursprüngliche Form einer Vase und er vermag vielleicht sogar auf Grund weniger Farbreste die Malerei auf deren Oberfläche soweit zu rekonstruieren, dass ikonographische Schlussfolgerungen möglich sind. Intuition lässt etwas Ähnliches nicht sukzessive, in einem Prozess, sondern auf einen Schlag geschehen. In der Vorzeit war eine solche Fähigkeit überlebenswichtig. Ein Rascheln im Busch, ein Schatten, ein unterdrücktes Schnauben oder ein unbestimmter Geruch – all diese Puzzleteile hätten eigentlich von einem Wesen, das kaum über angeborene Reflexe verfügt, umständlich zu etwas zusammengesetzt werden müssen, auf das es schließlich hätte reagieren können. Das Bild hätte sich dann erst im Augenblick des Gefressenwerdens bestätigen oder korrigieren lassen. Intuition ersparte vielen unserer Vorfahren ein solches Schicksal.
Aber auch in unserem modernen Alltag sind wir ständig auf Intuitionen angewiesen, auch auf solche, die in größerem oder kleinerem Maße über den Augenblick hinaus haltbar sind. Wir finden uns mit Hilfe relativ weniger Sinnesdaten zurecht, ohne dass wir die Situation mit allem geistigen Aufwand, den wir zu leisten in der Lage sind, ganz erfassen müssten. Wir wären orientierungslos, wenn uns nicht bestimmte Vorstellungen als eine Art „instinktive Überzeugungen“ ständig begleiteten, die wir nicht näher untersuchen. Wir werden uns beispielsweise dessen bewusst, wenn wir plötzlich etwas nicht an dem Ort vorfinden, an dem wir es vermutet haben. In unserer Vorstellung hat es sich noch dort befunden, nachdem es längst entfernt wurde.
Wer bestrebt ist, einer Sache auf den Grund zu gehen, kann Intuitionen nicht auf sich beruhen lassen. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt wäre ausgeblieben, hätte er nicht zahlreiche intuitive Überzeugungen erledigt. Paradoxerweise dürften den Anstoß wiederum Intuitionen gegeben haben, etwa das archimedische Heureka! oder Newtons Apfel. Aber sie setzten etwas in seiner Art ganz anderes in Gang. Kehren wir zu den kriminalistischen Beispielen zurück: Eine Intuition ist es auch, wenn der Kommissar angesichts eines scheinbar aufgeklärten Falles sagt: „Das ist mir alles zu einfach.“ Anschließend beginnt dann regelmäßig eine Untersuchung, die das Ziel hat, die lectio difficilior als wahr zu erweisen. Die erweist sich aber nicht vermöge einer Eingebung als wahr, sondern durch die Anwendung gültiger Beweismethoden.
Ein biederer deutscher Tatort-Kommissar würde das ebenso wenig vergessen wie Hank Quinlans mexikanischer Widerpart. Miguel Vargas besteht so entschieden auf rechtsstaatlichen Prinzipien, dass es für ihn unerheblich wird, ob Quinlans unrechtmäßig gewonnene Untersuchungsergebnisse zutreffen oder nicht. Die Erleuchtung durch ein lahmes Bein verleiht in seinen Augen Quinlan mitnichten irgendeine übermenschliche Autorität.
Genau diese beansprucht aber auch ein bestimmter an Verbreitung zunehmender Typ unserer intuitionsgeleiteten Zeitgenossen – wie schon seine zahllosen Vorläufer. Sie missachten das Recht der anderen, eine angeblich intuitive Erkenntnis diskursiv nachvollziehen zu können. Stattdessen bieten sie ihnen die Teilhabe an der Exklusivität ihres prätendierten Wissens an. Der Preis ist Unterwerfung.
An die Stelle der kritischen Prüfung einer Behauptung tritt die Demut des Adepten. Am Ende eines letzte Klarheit in religiösen und metaphysischen Fragen versprechenden Weges nach innen steht dann die vollkommene Außensteuerung. Verdrängt wird, dass das in der Vergangenheit von der Kirche eingeforderte sacrificium intellectus nach allen Erfahrungen, welche die Menschheit mit unbefragt agierendem Führungspersonal machen konnte, nur noch eines ist: verantwortungslos. Der hypnotische Intuitionstransfer produziert Zombies. Der Vorsatz, kein solcher sein zu wollen, wird von eben diesen und den Rattenfängern, denen sie nachlaufen, als die Wurzel allen Übels denunziert. Der totalitäre Kern des ganzen Phänomens, den schon Vargas‘ Bemerkung über die Schwierigkeiten des Polizeiberufs exakt bezeichnete, kommt so zum Vorschein.
Der einst durch Intuition gewährte evolutionäre Vorteil kann ohne die maßgebliche Ergänzung durch diskursives Denken, Zweifel und Kritik nicht erhalten bleiben. Gerade in den sogenannten „letzten Fragen“ hat der Verzicht auf Rationalität immer wieder verheerende Folgen gehabt. Das Heilsversprechen ist ein Köder. Es ist im allgemeinen nicht die Intuition, die uns den Haken erkennen lässt.
Im Alltag sind wir mit Intuitionen vielleicht vorsichtiger. Wir sind dann auch aufgeschlossener für das simple Gedankenexperiment, das man mit dem Begriff der Intuition anstellen kann. Es besteht in der einfachen Frage: Sind Intuitionen unfehlbar? Jeder, der schon einmal intuitiv die falsche Autobahnausfahrt genommen hat und danach intuitiv wusste, dass es die falsche war, kennt die Antwort.
Mehr als Anhaltpunkte können Intuitionen nicht sein. Ihre scheinbare Unerschütterlichkeit darf uns nicht über ihren hypothetischen Charakter täuschen. Wir müssen mit Hypothesen leben und wir leben damit nicht einmal schlecht, solange wir uns ihrer Vorläufigkeit bewusst sind. Aus diesem Bewusstsein ergibt sich für uns aber die Pflicht zur Reflexion. Das bedeutet ein distanziertes Verhältnis zu den eigenen Intuitionen und ein vorsichtiges Operieren mit dem vermeintlich Selbstverständlichen.
Der Intuitionsfixierte sagt ganz im Sinne der Empfehlungen im „Handbuch des Kriegers des Lichtes“ der notorischen Kitschschleuder Paolo Coelho: Ihr könnt sagen, was ihr wollt. Ich weiß… Damit verbunden ist oft eine Art gefühltes Philosophentum. Philosophieren besteht aber sicher nicht darin, dass man sich gegen Kritik immunisiert. Das sprachlose Beharren auf unklaren Standpunkten macht gerade jene Verliebtheit in das bloße Meinen aus, die den Gegentyp zum Philosophen charaktierisiert. Kant findet für ihn das Kunstwort Philodox. Er erinnert so daran, dass das griechische Wort sophia nicht einfach nur „Weisheit“ bedeutet, sondern auch das Gegenteil von bloßer Meinung (doxa), nämlich Wissen. Wenn es einen Weg zum Wissen gibt, kann er nicht im Verzicht auf das Denken bestehen. Und von einer anderen Art der Verbreitung von Wissen als der diskursiven kann man nichts wissen.