Archiv für Oktober 2010

Integration

Samstag, 9. Oktober 2010

Eine große Anzahl bislang respektabler Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hat sich nicht entblödet, einen Aufruf zu unterzeichnen, der am 1.10.2010 in der „tageszeitung“ veröffentlicht wurde. In diesem Appell erklären sie die Rede von der Integration zur Feindin der Demokratie. Das ist ein Skandal. Er darf nicht unkommentiert bleiben.

Kategorisch gilt: Der Begriff der Demokratie schließt das Mehrheitsprinzip ein. Indirekt ist damit auch der Schutz von Minderheiten garantiert. Ohne einen solchen Schutz könnte sich keine neue Mehrheit bilden. Dass Mehrheitsverhältnisse in alle Ewigkeit gleich bleiben, ist nämlich äußerst unwahrscheinlich. Um die Überprüfung von Mehrheitsverhältnissen entsprechend offen zu halten, muss die Unterdrückung von Minderheiten ausgeschlossen sein. Stigmatisierung und Diskriminierung darf es darum nicht geben.

Aus diesen Voraussetzungen kann leicht eine paradoxe Situation entstehen: etwa dann, wenn eine Mehrheit dem Vorwurf ausgesetzt ist, eine Minderheit zu diskriminieren. Die diskriminierte Minderheit und ihre Anwälte drängen folgerichtig auf Abhilfe. Nun zeigt sich aber, dass es innerhalb der diskriminierten Minderheit eine weitere Minderheit gibt, eine Untermenge, die ihrerseits Diskriminierung übt: z.B. durch Unduldsamkeit gegen Anders- oder Nichtgläubige, Homophobie, Judenfeindlichkeit, Frauenverachtung, absoluten Gehorsam gegenüber dergleichen dekretierender patriarchaler bzw. religiöser Autorität, Mordbefehle gegen Abtrünnige, taktische Überempfindlichkeit gegen angebliche Beleidigungen zwecks Entfesselung des eigenen Gewaltpotentials etc. Diese Untermenge behauptet nun – nicht ganz ohne eine gewisse Unterstützung seitens der Minderheit, welcher sie angehört – das Recht auf kulturelle Differenz, das es ihr gestattet, das diskriminierende Verhalten fortzusetzen. Die Frage ist, ob das beanspruchte Recht der Diskriminierten, selbst ihrerseits zu diskriminieren, in gleicher Weise schützenswert ist wie das Recht anderer auf Schutz vor Benachteiligung.

Es entsteht also das Problem einer Schnittmenge von Diskriminierten und Diskriminierenden. Spitzt man es zu, so kann man sagen: Das Diskriminierungsverbot wird selbst diskriminierend, denn es schließt Diskriminierende grundsätzlich aus, indem es ihr Verhalten für inakzeptabel erklärt und sanktioniert. Wer sich auf dieses Paradox einlässt, ist verloren: Er macht sich zum Hampelmann von Kräften, mit denen sich kritisch auseinanderzusetzen er seinem Selbstverständnis nach angetreten ist. Die Unterzeichneten des Aufrufs ignorieren diese unabwendbare Folge ihrer „Lösung“ jenes Exklusionsproblems, wenn sie die Rede von der Integration zur Feindin der Demokratie erklären. Sie glauben sich offenbar verpflichtet, im Kampf gegen Diskriminierung wiederum Diskriminierung zuzulassen oder sogar zu ermutigen.

Sie leugnen damit etwas ganz Elementares: Demokratie kann ohne Integration nicht bestehen. Sie ist darauf angewiesen, dass das Prinzip gleicher Rechte und der aus ihm folgende Gleichbehandlungsgrundsatz allgemein anerkannt werden. Eine Gesellschaft ist ein funktionierendes Ganzes, wenn die Bürger sich ihr in diesem Sinne zugehörig fühlen können. Dann sind sie integriert.

Rechte werden nicht dadurch außer Kraft gesetzt, dass sie nicht immer und überall durchgesetzt werden können. Die Pflicht sie zu respektieren muss aber gerade gegen solche Mitglieder der Gesellschaft durchgesetzt werden, die sich durch ihren Glauben oder ihr Geschlecht privilegiert wähnen und den Kampf gegen eventuell noch gravierendere soziale Ungerechtigkeiten damit behindern. Es geht nicht an, sie angesichts einer gefühlten oder realen kulturbedingten Ungleichbehandlung in einen Urlaub von der Demokratie zu schicken und ihnen hinterher zu rufen: „Macht in euren Parallelgesellschaften, was ihr wollt!“

Genau das tun die wohlmeinenden Unterzeichner, wenn sie der Integrationsverweigerung das Wort reden. Und das ist selbst demokratiefeindlich. Schlimmer noch: Es ist von einer unverzeihlichen Dummheit, denn es schadet einer Sache, die grundsätzlich Unterstützung verdient. Man hätte ihr keinen schlechteren Dienst erweisen können, als dieses abschreckende Beispiel besinnungslosen Unterschriftstellertums in die Welt zu setzen. Man kann den Unterzeichnern den Vorwurf des eitlen Moralismus nicht ersparen. Das blinde Bemühen um den größtmöglichen Abstand zu den zunehmend Verbreitung findenden – unzweifelhaft rassistischen! – Thesen eines Thilo Sarrazin führt geradewegs in den Sumpf gesinnungsethischen Unfugs.