Intuition

Scientia est cognitio vera sed dubitabilis nata fieri evidens per discursum.
William of Ockham

In seinem großartigen „film noir“ „Touch of Evil“ setzt sich der unvergleichliche Orson Welles als korrupter Polizeidetektiv in Szene. Sein Captain Quinlan ist der definitive „bad cop“. Am Ende des Films schwimmt er tot in einem vermüllten Grenzfluss. Den Nachruf auf den zur Strecke gebrachten Bösewicht sprechen Mort Mills und Marlene Dietrich: „Well, Hank was a great detective all right.“ – „And a lousy cop“.
Beide Urteile haben ihre Berechtigung. Captain Quinlans kriminalistisches Genie sitzt in seinem lahmen Bein. Es sagt ihm, sobald ein Mord geschehen ist, wer der Täter ist. Was das Bein sagt, ist nicht nur für den hinkenden Polizisten unanfechtbar; es entspricht auch regelmäßig dem aktenkundigen Untersuchungsergebnis. Doch den zweiten Teil des Nachrufs hat sich Quinlan mit den zuvor angewandten Investigationsmethoden eingehandelt: Sie bestehen in erpressten Geständnissen, gefälschten Beweisen und Rechtsbeugung in jeder erdenklichen Form. Der charismatische Finsterling macht sich seinen Beruf zu leicht. Charlton Heston in der Rolle seines Gegenspielers, des mexikanischen „good cop“ Vargas, hat dazu den passenden Kommentar: „A policeman’s job is only easy in a police state.“
Der Film ist ein Modell für das Verhältnis zwischen Intuition und diskursiver Rationalität. Wer über intuitive Gewissheit verfügt und es dabei belässt, weiß gewissermaßen etwas, ohne es beweisen zu können. Für die anderen sind Gewissheit und Wissen, soweit sie als intuitiv klassifiziert werden, ein bloßer Glaube. Für diesen bleibt der Glaubende den Beweis schuldig, solange er ihn nicht als ein lediglich für wahr Gehaltenes aufhebt. Dazu müsste er durch die Kombination von Sinneszeugnissen und logischen Operationen etwas herstellen, was als Wissen gelten kann. Die Entsprechung zur Handlungskonstellation in Welles‘ Film liegt auf der Hand: Was dort der kriminelle Verzicht auf allgemein akzeptierbare Untersuchungsmethoden ist, ist im Falle des reinen Beharrens auf intuitiver Erkenntnis der fahrlässige Umgang mit den elementaren Prinzipien der Überprüfbarkeit und der Nachvollziehbarkeit.
Die Fähigkeit zu intuitivem Erkennen ist ein wertvoller Teil unseres evolutionären Erbes. Lebewesen, die nicht darauf programmiert sind, unmittelbar auf die Wahrnehmung schematisierter Muster zu reagieren, tun sich naturgemäß schwer, wenn ihnen eine gegebene Situation schnelle Reaktionen abverlangt. Angesichts des fragmentarischen Charakters ihrer Wahrnehmung müssten die Voraussetzungen einer solchen Reaktion lange uneindeutig bleiben. Intuition lässt uns die aufgenommenen Wahrnehmungssplitter selbständig und spontan zu einem vollständigen Bild der Situation ergänzen, so dass auf dieser Basis schnell gehandelt werden kann.
Ein Archäologe bestimmt mit Hilfe von ein paar Scherben die ursprüngliche Form einer Vase und er vermag vielleicht sogar auf Grund weniger Farbreste die Malerei auf deren Oberfläche soweit zu rekonstruieren, dass ikonographische Schlussfolgerungen möglich sind. Intuition lässt etwas Ähnliches nicht sukzessive, in einem Prozess, sondern auf einen Schlag geschehen. In der Vorzeit war eine solche Fähigkeit überlebenswichtig. Ein Rascheln im Busch, ein Schatten, ein unterdrücktes Schnauben oder ein unbestimmter Geruch – all diese Puzzleteile hätten eigentlich von einem Wesen, das kaum über angeborene Reflexe verfügt, umständlich zu etwas zusammengesetzt werden müssen, auf das es schließlich hätte reagieren können. Das Bild hätte sich dann erst im Augenblick des Gefressenwerdens bestätigen oder korrigieren lassen. Intuition ersparte vielen unserer Vorfahren ein solches Schicksal.
Aber auch in unserem modernen Alltag sind wir ständig auf Intuitionen angewiesen, auch auf solche, die in größerem oder kleinerem Maße über den Augenblick hinaus haltbar sind. Wir finden uns mit Hilfe relativ weniger Sinnesdaten zurecht, ohne dass wir die Situation mit allem geistigen Aufwand, den wir zu leisten in der Lage sind, ganz erfassen müssten. Wir wären orientierungslos, wenn uns nicht bestimmte Vorstellungen als eine Art „instinktive Überzeugungen“ ständig begleiteten, die wir nicht näher untersuchen. Wir werden uns beispielsweise dessen bewusst, wenn wir plötzlich etwas nicht an dem Ort vorfinden, an dem wir es vermutet haben. In unserer Vorstellung hat es sich noch dort befunden, nachdem es längst entfernt wurde.
Wer bestrebt ist, einer Sache auf den Grund zu gehen, kann Intuitionen nicht auf sich beruhen lassen. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt wäre ausgeblieben, hätte er nicht zahlreiche intuitive Überzeugungen erledigt. Paradoxerweise dürften den Anstoß wiederum Intuitionen gegeben haben, etwa das archimedische Heureka! oder Newtons Apfel. Aber sie setzten etwas in seiner Art ganz anderes in Gang. Kehren wir zu den kriminalistischen Beispielen zurück: Eine Intuition ist es auch, wenn der Kommissar angesichts eines scheinbar aufgeklärten Falles sagt: „Das ist mir alles zu einfach.“ Anschließend beginnt dann regelmäßig eine Untersuchung, die das Ziel hat, die lectio difficilior als wahr zu erweisen. Die erweist sich aber nicht vermöge einer Eingebung als wahr, sondern durch die Anwendung gültiger Beweismethoden.
Ein biederer deutscher Tatort-Kommissar würde das ebenso wenig vergessen wie Hank Quinlans mexikanischer Widerpart. Miguel Vargas besteht so entschieden auf rechtsstaatlichen Prinzipien, dass es für ihn unerheblich wird, ob Quinlans unrechtmäßig gewonnene Untersuchungsergebnisse zutreffen oder nicht. Die Erleuchtung durch ein lahmes Bein verleiht in seinen Augen Quinlan mitnichten irgendeine übermenschliche Autorität.
Genau diese beansprucht aber auch ein bestimmter an Verbreitung zunehmender Typ unserer intuitionsgeleiteten Zeitgenossen – wie schon seine zahllosen Vorläufer. Sie missachten das Recht der anderen, eine angeblich intuitive Erkenntnis diskursiv nachvollziehen zu können. Stattdessen bieten sie ihnen die Teilhabe an der Exklusivität ihres prätendierten Wissens an. Der Preis ist Unterwerfung.
An die Stelle der kritischen Prüfung einer Behauptung tritt die Demut des Adepten. Am Ende eines letzte Klarheit in religiösen und metaphysischen Fragen versprechenden Weges nach innen steht dann die vollkommene Außensteuerung. Verdrängt wird, dass das in der Vergangenheit von der Kirche eingeforderte sacrificium intellectus nach allen Erfahrungen, welche die Menschheit mit unbefragt agierendem Führungspersonal machen konnte, nur noch eines ist: verantwortungslos. Der hypnotische Intuitionstransfer produziert Zombies. Der Vorsatz, kein solcher sein zu wollen, wird von eben diesen und den Rattenfängern, denen sie nachlaufen, als die Wurzel allen Übels denunziert. Der totalitäre Kern des ganzen Phänomens, den schon Vargas‘ Bemerkung über die Schwierigkeiten des Polizeiberufs exakt bezeichnete, kommt so zum Vorschein.
Der einst durch Intuition gewährte evolutionäre Vorteil kann ohne die maßgebliche Ergänzung durch diskursives Denken, Zweifel und Kritik nicht erhalten bleiben. Gerade in den sogenannten „letzten Fragen“ hat der Verzicht auf Rationalität immer wieder verheerende Folgen gehabt. Das Heilsversprechen ist ein Köder. Es ist im allgemeinen nicht die Intuition, die uns den Haken erkennen lässt.
Im Alltag sind wir mit Intuitionen vielleicht vorsichtiger. Wir sind dann auch aufgeschlossener für das simple Gedankenexperiment, das man mit dem Begriff der Intuition anstellen kann. Es besteht in der einfachen Frage: Sind Intuitionen unfehlbar? Jeder, der schon einmal intuitiv die falsche Autobahnausfahrt genommen hat und danach intuitiv wusste, dass es die falsche war, kennt die Antwort.
Mehr als Anhaltpunkte können Intuitionen nicht sein. Ihre scheinbare Unerschütterlichkeit darf uns nicht über ihren hypothetischen Charakter täuschen. Wir müssen mit Hypothesen leben und wir leben damit nicht einmal schlecht, solange wir uns ihrer Vorläufigkeit bewusst sind. Aus diesem Bewusstsein ergibt sich für uns aber die Pflicht zur Reflexion. Das bedeutet ein distanziertes Verhältnis zu den eigenen Intuitionen und ein vorsichtiges Operieren mit dem vermeintlich Selbstverständlichen.
Der Intuitionsfixierte sagt ganz im Sinne der Empfehlungen im „Handbuch des Kriegers des Lichtes“ der notorischen Kitschschleuder Paolo Coelho: Ihr könnt sagen, was ihr wollt. Ich weiß… Damit verbunden ist oft eine Art gefühltes Philosophentum. Philosophieren besteht aber sicher nicht darin, dass man sich gegen Kritik immunisiert. Das sprachlose Beharren auf unklaren Standpunkten macht gerade jene Verliebtheit in das bloße Meinen aus, die den Gegentyp zum Philosophen charaktierisiert. Kant findet für ihn das Kunstwort Philodox. Er erinnert so daran, dass das griechische Wort sophia nicht einfach nur „Weisheit“ bedeutet, sondern auch das Gegenteil von bloßer Meinung (doxa), nämlich Wissen. Wenn es einen Weg zum Wissen gibt, kann er nicht im Verzicht auf das Denken bestehen. Und von einer anderen Art der Verbreitung von Wissen als der diskursiven kann man nichts wissen.

5 Kommentare zu „Intuition“

  1. Friedhelm sagt:

    Danke für den sehr hilfreichen philologischen Kommentar zu Poes eigenartiger Begrifflichkeit, über die ich immer mal wieder gestolpert bin, wenn ich der Rationalität der detektivischen oder kriminalistischen ‚Aufklärung‘ auf die Schliche kommen wollte.
    Aber Dein Insistieren auf diskursiver Rationalität und imaginativer Analyse als Garantie dafür, sich im Glauben an die Vernunft – die Formulierung soll ruhig ein bisschen ärgern – nicht auf Holzwegen zu verrennen, scheint mir doch, in Zeiten der Gentechnik und des Kokettierens mit dem Menschenpark mit seinen monströsen Kopfgeburten, zu wenig. Auch Savater macht es sich da recht einfach, wenn er von „der“ Vernunft“ und „dem“ rationalen Diskurs spricht, so als gäbes es nur eine/einen. Vielleicht macht so ein altmodischer Begriff wie ‚instrumentelle Vernunft‘ deutlicher, wo mir Differenzierungen notwendig scheinen, auch wenn ich fürchte, dass ich damit Eulen nach Euskirchen bzw. auf den Venusberg trage.
    „Die gefährlichste Sorte von Dummheit ist ein scharfer Verstand“, bemerkte Hofmannsthal und wird von Adorno in seinen Noten zur Literatur über Kraus‘ „Sittlichkeit und Kriminalität“ durchaus zustimmend kommentiert, mit dem Hinweis auf ebendiese „instrumentelle Vernunft“, die er dann näher bestimmt als „formales Denken, das die eigene Allgemeinheit, und damit seine Verwendbarkeit für beliebige Zwecke, der Absage an die inhaltliche Bestimmung durch seine Gegenstände verdankt“. Eine Passage, in der auch die „Triumphe der positiven Wissenschaften“ nicht fehlen dürfen und die nachzulesen sich lohnt in den „Noten zur Literatur III“ von 1965 S. 71 f. Auch wenn damit – hoffentlich – neue Fragen aufkommen.

  2. Lieber Rudolf,

    für mich war dein Text Anstoß, zu kommentieren. Ich habe viel an Michel Foucault denken müssen, auch an Habermas, ein manches Mal an Derrida. Im Grunde stimme ich mit dir überein, wenn wir uns abgrenzen müssen von ungeprüftem Wissen, von Intuitionswissen, sobald es darum geht, uns miteinander zu verständigen oder eigene schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Eine kritische Haltung zu scheinbar „angeborenen“, „vermittelten“ oder auch „gefühlten“ Wissen ist unverzichtbar, wenn wir nicht immer wieder die ‚falsche Ausfahrt nehmen‘ wollen. Jedoch frage ich mich, ob es mit dem bloßen Hinweis auf „Rationalität“ genügt oder ob sich darin nicht eine neue ‚Falle‘ auftut. Sicher ist Vernunftkritik nicht mehr eine besonders einfallsreiche (weil neue) Haltung, allerdings ist sie – in meinen Augen – immer noch berechtigt. Folgerichtig sprichst auch du von „diskursiver Rationalität“ und meinst vermutlich ein Wissen, das in einem offenen Diskurs zustande kommt. Gleichsam demokratisch entstanden, sollte dieses Wissen dann Gültigkeit beanspruchen können:
    „Dazu müsste er durch die Kombination von Sinneszeugnissen und logischen Operationen etwas herstellen, was als Wissen gelten kann. Die Entsprechung zur Handlungskonstellation in Welles’ Film liegt auf der Hand: Was dort der kriminelle Verzicht auf allgemein akzeptierbare Untersuchungsmethoden ist, ist im Falle des reinen Beharrens auf intuitiver Erkenntnis der fahrlässige Umgang mit den elementaren Prinzipien der Überprüfbarkeit und der Nachvollziehbarkeit.“
    Der Nachteil dieser Methode rückt erst dann ins Licht, wenn wir uns über die Grundlagen, also die Kriterien der „Überprüfbarkeit“ und „Nachvollziehbarkeit“ bewusst werden. Wie können wir sagen, dass ein Text überprüfbar ist? Wann können wir ihn nachvollziehen? Ganz einfach: Wir müssen im selben Diskurs mit ihm stehen. Ganz einfach und vielleicht doch nicht: Was, wenn der Diskurs, in dem wir stehen, Regeln des Sprechens produziert, die uns zwar die Kommunikation miteinander ermöglichen, aber auch Fehler im Denken unablässig reproduziert? „Rationalität“ ist nicht nur ein Ideal, sondern auch seit langem für die Diskurse über Erkenntnis ein ‚Diktus‘. All das, was nicht rational ist, solle bitte außerhalb der Verhandlung von Aussagen bleiben.

    In Bezug auf die ‚Intiutiven‘ hieß es
    „Genau diese [übermenschliche Autorität] beansprucht aber auch ein bestimmter an Verbreitung zunehmender Typ unserer intuitionsgeleiteten Zeitgenossen – wie schon seine zahllosen Vorläufer. Sie missachten das Recht der anderen, eine angeblich intuitive Erkenntnis diskursiv nachvollziehen zu können. Stattdessen bieten sie ihnen die Teilhabe an der Exklusivität ihres prätendierten Wissens an. Der Preis ist Unterwerfung.“
    Der Preis der Anteilhabe an einem intuitiven Wissen des anderen ist Unterwerfung. Soweit so gut. Wenn allerdings ein Diskurs von Rationalität regiert wird und man nur die Wahl hat, sich dieser Rationalität zu beugen oder außerhalb des Diskurses zu sein – meint das nicht auch eine Form der Unterwerfung? Die Vermutung liegt nahe, dass die Rationalität sich gibt als eine universale Institution, die weder zeitlichen noch räumlichen Ursprung für sich angeben möchte. Institutionen aber, die sich verschleiern, sollte man doch erst recht mit Skepsis begegnen. So heißt es auch bei dir:

    „Mehr als Anhaltpunkte können Intuitionen nicht sein. Ihre scheinbare Unerschütterlichkeit darf uns nicht über ihren hypothetischen Charakter täuschen. Wir müssen mit Hypothesen leben und wir leben damit nicht einmal schlecht, solange wir uns ihrer Vorläufigkeit bewusst sind. Aus diesem Bewusstsein ergibt sich für uns aber die Pflicht zur Reflexion. Das bedeutet ein distanziertes Verhältnis zu den eigenen Intuitionen und ein vorsichtiges Operieren mit dem vermeintlich Selbstverständlichen.“
    Was würde es dabei bedeuten, ein distanziertes Verhältnis zur ‚Rationalität‘ aufzubauen? Im Grunde doch, ihren Ursprung zu suchen und ihre Regeln aufzudecken und zu überprüfen. Mir scheint, in Teilen braucht es dazu eines Typs von Untersuchung, der sogar mit deiner Explikation von „Intuition“ zusammenfällt: Es ist der ‚Archäologe‘, der sich auf die Suche nach Spuren, nach Resten eines Ereignisses in der Geschichte macht. Wenn er dabei erfolgreich sein will, darf bekanntes Wissen nur Anhaltspunkt sein. Die Rekonstruktion soll es ermöglichen, aus den Teilen ein Ganzes zu bilden und Aussagen über ein Ereignis zu treffen. Jedoch, können wir solches als Intuition bezeichnen?
    „Intuition lässt etwas Ähnliches nicht sukzessive, in einem Prozess, sondern auf einen Schlag geschehen.“
    Wenn das so ist, dann kann doch Archäologie nicht Intuition sein. Das Sammeln und Zusammenlegen der Einzelteile ist ja ein teils reflektierter, teils spontaner Vorgang. In jedem Fall aber muss das konstruierte Ereignis dem vorangehenden Wissen standhalten bzw. dieses ergänzen oder transzendieren. Der Archäologe kann aber gar nicht losgelöst von diesem zu Ergebnissen gelangen. Die „Anwendung gültiger Beweismethoden“ gilt auch für den Archäologen, aber sie lässt ihm einen Spielraum und ermöglicht ihm, bestehendes Wissen zu erweitern – nicht zu ergänzen, sondern zu erweitern und zu verändern. So kann der Archäologe sein neu aufgestelltes Wissen zwar kommunizieren und überprüfen lassen – die Evidenz kommt aber von den Teilen, die er untersucht.
    Zurück zur Archäologie als Untersuchungsmethode für den Gegenstand der „Rationalität“: Würde es uns gelingen, die Teile zu entdecken und zusammenzufügen, die uns erlauben, vom Entstehen einer „Rationalität“ zu sprechen, würden wir unserem Anspruch an Kritik ein gutes Stück näher kommen:

    „Der einst durch Intuition gewährte evolutionäre Vorteil kann ohne die maßgebliche Ergänzung durch diskursives Denken, Zweifel und Kritik nicht erhalten bleiben. Gerade in den sogenannten „letzten Fragen” hat der Verzicht auf Rationalität immer wieder verheerende Folgen gehabt. Das Heilsversprechen ist ein Köder. Es ist im allgemeinen nicht die Intuition, die uns den Haken erkennen lässt.“
    Ohne Zweifel: Intuition – verstanden als gefühlte Wahrnehmung von ‚Richtigkeit‘ – darf uns nicht genügen. Anstatt allerdings in der Rationalität ein Heil zu suchen, das in einer bloßen „Akkumulierung von Wissen endet“, sollten wir Kritik üben, wo es möglich ist – also auch an der Rationalität selbst. Die Tatsache, dass schon Sokrates zu einer Form der ‚Selbstsorge‘ aufgerufen hat, die rationale Erkenntnis, aber auch psychologische und physische Erkenntniszugänge mit einbezieht, sollte uns daran erinnern, dass es bei der Wahrheitssuche um mehr geht, als um das Ziehen logischer Schlüsse. Der Glaube an das Heil ist die natürliche Gefahr. Der ‚Versuch‘ ist die einzige sinnvolle Alternative.

    mit allerbesten Wünschen
    Micha

    • Rudolf Selbach sagt:

      Lieber Micha,
      es freut mich sehr, auf diese Weise wieder eine Verbindung zu Dir zu bekommen. Eine Antwort macht darum um so mehr Freude. Ich bitte im Voraus um Entschuldigung für eine gewisse Grobschlächtigkeit, wenn ich nun gestehe: Ich bin in der Postmoderne nie richtig angekommen. Um es deutlicher zu sagen: Eigentlich empfand ich das Ganze als eine Art relativistische Pest. Und der sprachliche Ausdruck, den das seinerzeit neue Theoriedesign fand, beispielweise im „Anti-Ödipus“ von Deleuze und Guattari oder bei Baudrillard, erst recht dann bei Derrida, machte mich einfach ratlos. Ich fühlte mich regelrecht abgestoßen (Ausnahmen: Vilém Flusser und – vielleicht überraschend – der stark von Foucault beeinflusste Heiner Müller). Inzwischen ist meine Haltung etwas respektvoller geworden, aber sie ist immer noch von Misstrauen geprägt. Vielleicht sehe ich das eine oder andere sogar ein. Trotzdem zweifle ich, ob so etwas für eine über sich selbst aufgeklärte Aufklärung unbedingt nötig gewesen wäre. Immerhin hat Foucault angesichts seiner verspäteten Lektüre von Horkheimer und Adorno das auch schon einmal eingeräumt.
      Ach ja, Foucault: Um 1980 ist er in Teheran den Mullahs gründlich auf den Leim gekrochen. Seine Diskursanalyse hat ihn vor Torheiten dieser Art nicht bewahren können. Vielleicht hat seine Relativierung der Grundlagen der europäischen Denktradition solche Verirrungen sogar gefördert.
      Die Idee der Konzentrationslager kam angeblich – ich glaube, auch Foucault weist darauf hin -, lange vor ihrer ersten technischen Umsetzung im Burenkrieg, während der französischen Revolution auf, wird also von der postmodernen Kritik an der Aufklärung dem Zeitalter der Vernunft auf das Schuldkonto geschrieben. Die Eingesperrten waren dann die von der Menschheit ausgesperrten, erst der Humanismus machte, so wird behauptet, den Unmenschen. Womit wir dann beim Posthumanismus und beim theoretischen Antihumanismus angekommen wären. Es bleibt die Frage: Kann ausgerechnet eine davon geprägte Haltung Unmenschlichkeit verhindern, wenn man sie nicht einmal mehr so nennen darf?
      Ich will meine Grobschlächtigkeit noch nicht aufgeben, wenn ich mit einem Zitat schließe, das gegenüber den oben genannten Autoren eine starke, aber wie ich finde, keine schreckliche Vereinfachung bedeutet:
      „(…) Häufig wird diesem Rationalismus ein blinder Glaube an die Allmacht der Vernunft vorgeworfen, so als ob eine solche Leichtgläubigkeit mit dem kritischen Gebrauch dieser Fähigkeit vereinbar wäre oder widerlegt werden könnte, ohne auf ihn zurückzugreifen.
      Die Vernunft wird nur von denen unkritisch verherrlicht, die sie wenig gebrauchen, nicht von denen, die sich ihrer ständig bedienen und ihr das Äußerste abverlangen. Nicht weniger verbreitet ist die Ablehnung des rationalen Diskurses unter dem Vorwurf des Ethnozentrismus, indem man ihn abwertend als »westliches« Phänomen bezeichnet, als ob das empirische Wissen und die theoretischen Reflexionen in anderen Weltregionen – nicht der Aberglaube, der auch im Westen sehr verbreitet ist – nicht rationalen Parametern entsprächen. Alle menschlichen Gesellschaften sind grundsätzlich rational: Wie Ernst H. Gombrich bemerkte, gibt es Völker, denen die Perspektive in der Malerei unbekannt ist, aber nirgendwo stellt sich jemand, der sich vor einem Feind verstecken will, vor einen Baum statt dahinter. Menschen aus ehemals westlich dominierten Regionen verhalten sich alles andere als irrational, wenn sie gerade die rationale Argumentation geschickt einsetzen, um die imperialistischen oder ausbeuterischen Absichten der so genannten westlichen Länder zu brandmarken. Wo sie aber zu ihren Gunsten nur den ethnozentrischen Rationalismus ihrer Gegner anführen, geschieht dies aus dem Versuch, Privilegien oder Tyranneien aufrechtzuerhalten und gegenüber jenen zu rechtfertigen, die rational verstehen, dass diesen kein auf Vernunft gründender Respekt gebühren kann.“
      Aus: Fernando Savater: Darum Erziehung. Frankfurt am Main 1998. S. 173.
      Du siehst, dass ich die Auffassung, man könne „nach Foucault“ nicht mehr so denken, nicht teile. Aber vermutlich gehen unsere Abneigungen zumindest teilweise in dieselbe Richtung. Die von Dir angemerkten Probleme betrachte ich auch noch lange nicht als gelöst. Vielleicht klärt sich das eine oder andere noch. Ich will ja nicht schon nach fünf Artikeln aufhören. Und ich werde mich immer über Kommentare von Dir freuen.
      Herzlichst
      Rudolf

  3. Friedhelm sagt:

    Vorschlag zur weiteren Untersuchung – jenseits der Inuition gibt es auch noch jede Menge Holzwege:
    „Die analytische Fähigkeit sollte nicht mit einfachem Scharfsinn verwechselt werden; denn während der Analytiker unbdingt scharfsinnig sein muß, ist der scharfsinnige Mensch oft erstaunlich unfähig zu jeder Analyse. Die Fähigkeit, zu konstruieren oder zu kombinieren, durch die sich der Scharfsinn gewöhnlich äußert, (…) hat sich oft bei Intelligenzen gezeigt, die in anderer Beziehung an Blödsinn grenzten (…).“
    E.A. Poe, Der Mord in der Rue Morgue. Hamburg (rowohlt klassiker) 1979, S. 39

    • Rudolf Selbach sagt:

      Poe schreibt über den Analytiker:
      „Seine Ergebnisse, erbracht wohl ganz im Wesen und Geiste der Methode, haben in Wahrheit durchaus den Hauch von Intuition an sich.“
      Soweit die Wollschlägersche Übersetzung.
      Bei Gutenberg fand ich stattdessen in einer nicht genannten Übersetzung am Anfang der Erzählung:
      „Obwohl seine Resultate nur das Produkt einer geschickt angewandten Methode sind, machen sie den Eindruck einer Intuition.“
      Im Original:
      „His results, brought about by the very soul and essence of method, have, in truth, the whole air of intuition.“
      Kurz danach heißt es:
      „Yet to calculate is not in itself to analyze.“
      und an der von Dir zitierten Stelle im Original:
      „The analytical power should not be confounded with simple ingenuity; for while the analyst is necessarily ingenious, the ingenious man ist often remarkably incapable of analysis.“
      Die Übersetzung mit von „ingenious“ mit „scharfsinnig“ oder „klug“ scheint mir nicht passend zu sein. Ich glaube, man kann „ingenious“ mit „intuitiv begabt“ übersetzen. Dann sehe ich aber keinen Holzweg über den bisher geschilderten hinaus. Poe schließt den Absatz mit den Worten:
      „Between ingenuity and the analytic ability there exists a difference far greater, indeed, than that between the fancy and the imagination, but of a character very strictly analogous. It will be found, in fact, that the ingenious are always fanciful, and the truly imaginative never otherwise than analytic.“
      Wollschläger übersetzt fancy mit „bloßer Phantasie“ und imagination mit „eigentlicher Imaginationskraft“. Wer denkt da nicht an Poes „Philosophy of Composition“? Scheinbar handelt es sich bei dem hier rekonstruierten Entstehungsprozess von „The Raven“ um einen rein kalkulatorischen Vorgang. Aber durch die oben zitierten Bemerkungen wird klar, dass Poe beansprucht, über ingeniöse und analytische Fähigkeiten zu verfügen und insofern „truly imaginative“ zu sein.
      Damit komme ich zu der oben zitierten Entgegensetzung von „calculation“ und „analysis“. Wenn letztere Anteil an wahrer Imagination hat, verweist das deutlich auf Poes Position innerhalb der Romantik, und zwar auf eine Strömung innerhalb derselben, die die Verbindung zur Aufklärung nicht ganz gekappt hat (bei der sonst weniger erfreulichen politischen Position Poes eher überraschend). Sein Begriff der Imagination lässt jedenfalls an Shelleys „Defence of Poetry“ denken, in der es in der Übersetzung von Horst Höhne heißt:
      „Das große Instrument des sittlich Guten ist die Imagination (…). Niemals ist die Pflege der Poesie mehr zu wünschen als in Zeiten, da durch die übermäßige Ausbildung des selbstsüchtigen und berechnenden Prinzips die Anhäufung der Güter des äußeren Lebens das Maß der Fähigkeit übersteigt, diese den inneren Gesetzen der menschlichen Natur anzuverwandeln. Der Körper ist dann zu schwerfällig für die ihn belebende Seele geworden. (…) Die Poesie (…) macht uns zu Bewohnern einer Welt, der gegenüber die gewohnte Welt ein Chaos ist. Sie entwirft ein Bild des gewöhnlichen Alls, zu dem wir gehören und das wir wahrnehmen, und nimmt von unserem inneren Auge den Nebel der Vertrautheit, der uns das Wunder unseres Seins verbirgt. Sie schafft die Welt neu, nachdem sie in unserem Geist durch die ständige Wiederkehr von abgestumpften Eindrücken vernichtet worden ist. (…) Dichter sind die nicht anerkannten Gesetzgeber der Welt.“
      Mit Hilfe des hier schon vor Poe auftauchenden Gegensatzes von Berechnung und Imagination lässt sich unschwer die Gemeinsamkeit zwischen beiden Autoren feststellen. Du wirst Dir denken können, dass ich in diesem Punkt sehr mit ihnen einverstanden bin, vor allem, weil das Etikett „idiocy“ bzw. „Blödsinn“ den nach meinem Geschmack passenden Kandidaten ans Revers geklebt wird.

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