Einheit, mystisch

No guru, no method, no teacher.
Van Morrison

I

Über August von Platen hat die Nachwelt distanziert respektvoll oder gleichgültig bis unfreundlich geurteilt. Anthologien enthalten meist diejenigen unter seinen Gedichten, welche die Einstufung seines Werks als kalt und formalistisch eher bestätigen. Aber sein fünfundzwanzigstes Ghasel behauptet unangefochten seinen Platz in der deutschen Gedankenlyrik. Es verdient eine eingehende Würdigung:

Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts,
Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts!
Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt,
So gäb’s Beklagenswerteres auf diesem weiten Runde nichts!
Einförmig stellt Natur sich her, doch tausendförmig ist ihr Tod,
Es fragt die Welt nach meinem Ziel, nach deiner letzten Stunde nichts;
Und wer sich willig nicht ergiebt dem ehrnen Lose, das ihm dräut,
Der zürnt ins Grab sich rettungslos und fühlt in dessen Schlunde nichts;
Dies wissen Alle, doch vergißt es Jeder gerne jeden Tag,
So komme denn, in diesem Sinn, hinfort aus meinem Munde nichts!
Vergeßt, daß euch die Welt betrügt, und daß ihr Wunsch nur Wünsche zeugt,
Laßt eurer Liebe nichts entgehn, entschlüpfen eurer Kunde nichts!
Es hoffe Jeder, daß die Zeit ihm gebe, was sie Keinem gab,
Denn Jeder sucht ein All zu sein und Jeder ist im Grunde nichts.

Neben dem Hamlet-Monolog und Macbeths nihilistischer Bilanz bietet sich für eine philosophische Lektüre des Textes als Bezugspunkt Platens Zeitgenosse Schopenhauer an. Dessen Hauptwerk endet – ohne dass von einer Beziehung zwischen den beiden Autoren die Rede sein könnte – mit demselben Wort wie das Ghasel: nichts. Man kann fragen, worin sich Platens Nichts vom „buddhistischen“ Nichts Schopenhauers unterscheidet.

Gleich zu Beginn scheint das Ghasel dem Leser den Trost des buddhistischen Erlösungsversprechens zu versagen. Bekräftigt wird in gewisser Weise die erste der vier edlen Wahrheiten, die Lehre von der Unentrinnbarkeit des Leidens. Dass sich jedoch über die Tugend des Mitleidens, etwa im Sinne eines rechten Handelns, wie es der achtfache Pfad vorsieht, damit ein Ende machen ließe, wird ausgeschlossen. Umso entschiedener wird die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber dem menschlichen Schicksal als unumstößliche Tatsache anerkannt. Statt von einem Schicksal, das einen Absender hätte, ist jedoch von einem Los die Rede – eine gängige Metapher für das allgemein obwaltenden Zufallsprinzip. Als angemessene Haltung gegenüber dem von keiner ansprechbaren Instanz verhängten Verhängnis bleibt nichts als das gelassene Hinnehmen des Unvermeidlichen. Der Gelassene, der „sich willig (…) ergiebt“, wird aus dem, was andere für beklagenswert halten, nicht mehr viel Wesens machen. Wer aber glaubt, dass ein solcher amor fati nur auf Entsagung hinauslaufen kann, erlebt eine Überraschung. Die Panzerung, die der Asket gegen „the slings and arrows of outrageous fortune“ anlegt, bleibt in der Rüstkammer. Das durch das „ehrne Los“ zugeteilte Leben will nicht verneint, sondern gelebt werden. Anachoretentum wäre im Sinne Hamlets „opposing“, Widerstand, mit dem Ziel: „to end them“. Das Sich-Abtöten verböte sich als Variante des Selbstmords.

Anders als bei Shakespeare hält uns nicht „the dread of something after death“ davon ab; das entfaltete Los soll vielmehr affirmativ als Programm gelesen werden, ohne Furcht und ohne eine etwaige Hoffnung, der Ablauf des Programms könnte für den Inhaber des Loses irgend etwas abwerfen. „Leben“ scheint so – wie „Welt“ in der Systemtheorie – zu einem differenzlosen Begriff zu werden, der sich auf keinen anderen mehr beziehen lässt und insofern etwas bezeichnet, dessen Wert an keinem Maßstab messbar ist. Die Schopenhauersche Rechnung, der zufolge das Leben ein Geschäft ist, das die Investition nicht lohnt, ist unter dieser Voraussetzung nicht mehr möglich.

Trotzdem müsste das Ganze in seiner Abstraktheit den Leser enttäuschen, wenn es mit dieser Abgrenzung sein Bewenden hätte. Platen lässt das Programm des menschlichen Lebens darum nicht im Unbestimmten; im drittletzten Vers wird ein Imperativ ausgesprochen, der mehr enthält als das selbst auferlegte Gebot, über die einmal anerkannte Absurdität der condicio humana zu schweigen. Was als Phänomen gegeben ist, soll als normative Basis für die Praxis angenommen werden: „Liebe“ und „Kunde“. In der „Kunde“, der nichts „entschlüpfen“ soll, ist leicht der menschliche Wissensdrang zu erkennen, das in das Dunkel der Unwissenheit eindringende, von vorurteilsfreier Neugier gespeiste Licht der Aufklärung, das Streben des Menschen, mittels der Vernunft Herr seiner Bedingungen zu werden.

Der Appell, man möge der eigenen „Liebe nichts entgehn“ lassen, ist zunächst problematisch. Eine durch die Angst zu kurz zu kommen kontaminierte Liebe müsste unweigerlich in triebhafte Eroberungslust und Besitzgier umschlagen. Mit einer auf instrumentelle Vernunft verkürzten Kunde würde sie eine unheilige Allianz eingehen. Der Schlussvers hebt aber eine solche Deutung auf. Er tut das im dreifachen Sinne des tollere, conservare und elevare. Die soeben erwogene Deutung hatte zwischen „Liebe“ und „Kunde“ die Relation von Zweck und Mittel unterstellt. Ein neues Verständnis müsste diese unterstellte Beziehung nicht auflösen, wenn die „Kunde“ in den Dienst einer anders verstandenen „Liebe“ treten könnte. Am Ende hätte nämlich eine auf Allheit angelegte Liebe kein spezifisches Objekt mehr. Sie wäre von egoistischen Neigungen gereinigt wie das allgemeine Wohlwollen, das der Forderung Immanuel Kants zufolge an die Stelle des subjektiven Wohlgefallens zu treten hätte – als „praktische, nicht pathologische Liebe“. Der im zweiten und sechsten Vers mit allem Nachdruck deklarierte moralische Pessimismus würde nachträglich relativiert.

Vielleicht kommt diese Interpretation allzu kantianisch daher. Nicht von Ungefähr hat sich als Modus in den voraufgegangenen Absatz der Konjunktiv eingeschlichen. Aber es ist der Schlussvers, der alles Vorherige plötzlich ganz anders beleuchtet und trotz der Folgerichtigkeit, mit der er erscheint, allem bis dahin Gesagten eine neue Bedeutung verleiht. Das ganze Gedicht scheint auf diesen Vers hin konstruiert zu sein. Der kunstvolle Einsatz des formtypischen Überreims bereitet ihn als eine Pointe vor, die sich erst mit dem allerletzten Wort, der allerletzten Silbe ergibt. Sieht man von der Konjunktion am Satzanfang ab, so kann trotz des fast vollständig durchgehaltenen sentenzenhaften Zeilenstils keinem der vierzehn Verse mit größerem Recht bescheinigt werden, dass er für sich stehen kann.

Diese Beobachtung legitimiert – zumindest vorübergehend – eine isolierte Betrachtung. Der Schlussvers von Platens Ghasel scheint an eine wohlbekannte Struktur zu erinnern, nämlich die, von welcher die Mystik ausgeht. Die unio mystica wird seit jeher als Einswerden mit Allem begriffen. Zum Grundrepertoire aller mystischen Lehren gehört die Idee der Auflösung des Ichs. Wer mit Allem eins werden will, muss einen Preis zahlen: Er muss zu nichts werden. Der Gewinn besteht in der Aufhebung des individuellen Abgetrenntseins von allem, der Beseitigung der zeitlich-räumlichen Ichgrenzen, der Erlösung von allem, was im Heidegger-Jargon als die Geworfenheit des Daseins apostrophiert wird. Dieser Gewinn kann freilich keinem Individuum mehr gutgeschrieben werden. Anders als mit der Einsicht, es sei nicht schade um alles Begrenzte und Begrenzende, das Individualität nun einmal ausmacht, kann man sich über ihren Verlust nicht hinwegtrösten.

Im Kontext des Ghasels wird jedoch der Wunsch „ein All zu sein“ als Bedingung eines Strebens interpretiert, dessen Subjekt vorsätzlich vergessen muss, dass es von der Welt betrogen wird. Sein Wunsch, „daß die Zeit ihm gebe, was sie Keinem gab“, hat definitionsgemäß keine Aussicht auf Erfüllung; die Überwindung der „Subjekt-Objekt-Spaltung“ (Jaspers) liegt nicht im Bereich des Möglichen. Als Ziel kann sie gemäß einer Art paradoxer Seinsverfassung dennoch nicht aufgegeben werden. Der Versuch, die Aufgabe trotz allem zu bewältigen, soll hier mit Hilfe von Mitteln aufgenommen werden, welche die Mystik grundsätzlich verschmäht: Anders denn als etwas durch rational betriebene Forschung Erworbenes lässt sich für Platen „Kunde“ wohl nicht denken. Wie dem auch sei: Das mystische Streben und sein aller Gegenständlichkeit enthobener Gegenstand finden nicht zueinander.

Das Scheitern, zu dem „Jeder“ unwiderruflich verurteilt ist, ist mit eben dem Gleichmut hinzunehmen, der sich für den Strebenden noch verbietet. Mehr als ein Jahrhundert später findet sich ein ähnlicher Gedanke in Camus’ „Mythos von Sisyphos“ wieder. Es ist ein ähnlicher Gedanke, nicht der gleiche. Sisyphos akzeptiert die Absurdität der unverdrossenen Wiederholung eines aussichtslosen Unterfangens. Die illusionslose Bewusstheit, die er dadurch beweist, gibt ihm nach Camus Würde. Dem scheint Platens Behauptung der Nichtigkeit des Individuums zu widersprechen.

Dennoch sind die in Platens Gedicht Form gewordenen Gedanken weniger von der ganz der Moderne angehörenden Gedankenwelt eines Albert Camus abzugrenzen als von den mystizistischen Einflüssen der Romantik. Dem Text ist daher ein modernes und daher konsequent diesseitiges Verständnis angemessen: Die im Schlussvers konstatierte Nichtigkeit ist der Nullpunkt des Beginns. Alles beginnt mit der Zumutung an das Individuum, sich im Lebensprozess durch den ihm durch die Umstände gegebenen Weltausschnitt hindurchzuarbeiten. „Im Grunde nichts“ zu sein bedeutet nichts anderes als das den Prozess begleitende Bewusstsein, aus dem Nichts zu kommen und dazu bestimmt zu sein, in es zurückzukehren. Gerade dieser Hintergrund ermöglicht die Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit der menschlichen Individualität, die sich in der Qualität der Auseinandersetzung mit der Welt beweist.

Einheit und Differenz bilden in Platens Gedicht einen unauflösbaren Gegensatz. Trotzdem nimmt er das mystische Streben, mit Allem eins zu sein, als etwas in der menschlichen Natur Angelegtes ernst. Er muss ihm aber die Möglichkeit bestreiten, an sein Ziel zu gelangen. Die Welt lässt sich, anders als es mystische Lehren versprechen, auf dem Weg zu einem solchen Ziel nicht überspringen. Im fünften Akt von Grabbes Drama „Hannibal“ heißt es dazu: „Ja, aus dieser Welt werden wir nicht fallen. Wir sind einmal drin.“

II

Die Literatur der mystischen Tradition stand im Ruf gesuchter Dunkelheit. Heute ist die Rede von der Mystik oft mit Schwulst und einer gewissen Süßlichkeit, ja Kitschanfälligkeit belastet. Für das alles gibt es objektive und subjektive Gründe. Der objektive Grund besteht darin, dass es sich um einen Bereich handelt, bei dem die Sprache auf Grenzen stößt. Begriffliche Trennschärfe erhält im Zuge des Bemühens um die Beseitigung aller Trennungen – paradoxerweise! – Lokalverbot. Auf der Subjektseite geht die Hinwendung zu diesem Thema nicht selten auf eine bedenkliche psychische Verfassung zurück: eine regressiv-kindliche Realitätsverweigerung. Sie verführt dazu, aus der gefühlten Überforderung durch die Anstrengung des Begriffs eine Weltanschauung zu machen – mit verheerenden Folgen für den guten Geschmack.

Im achtzehnten Jahrhundert sprach man in diesem Zusammenhang von Schwärmerei und die ihr Verfallenen nannte man Schwarmgeister. Im Zeitalter der Vernunft war der heute modische Begriff der Schwarmintelligenz noch unbekannt. Man hätte darin eine contradictio in adiecto gesehen. Wer sich im Sinne jener Begrifflichkeit schwärmerisch verhielt, vertraute sich einer Bewegung an, über die seine Verstandeskräfte keine Kontrolle mehr hatten. Ein Einzelwesen, das nur noch als das Element eines Schwarms wahrnehmbar ist, vermag sich ebenfalls nicht mehr im Interesse eines individuellen Selbst zu kontrollieren. Es ist im Schwarm aufgegangen.

Nun kann das Interesse eines individuellen Selbst nicht per se beanspruchen, anerkannt zu werden. Der Wille, es rücksichtslos durchzusetzen, wird für den privaten Umgang der Menschen miteinander prinzipiell moralisch verurteilt. Wertschätzung erfährt, wer fähig ist, von sich selbst abzusehen. In seiner anthropologischen Studie „Egozentrizität und Mystik“ betont Ernst Tugendhat die Berechtigung dieser Wertschätzung. Er spricht der Mystik ausdrücklich ein Daseinsrecht zu, weil sie Menschen in die Lage versetzt, „von sich selbst zurückzutreten“. Wer sich mystischen Einheitsgefühlen hingegeben hat, hat Grund zu der Hoffnung, das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit nicht mehr als allzu drückend zu erleben. Der Druck, im eigenen Interesse etwas erzwingen zu müssen, wird daher nachlassen. Der gelebte Gedanke einer universellen Verbundenheit macht es möglich, „die eigene Egozentrizität zu transzendieren“.

Diese Egozentrizität ist jedoch der menschlichen Spezies gleichsam als überlebenswichtiges Erbe in die Wiege gelegt. Tugendhat führt sie auf die Entwicklung einer propositionalen Sprache zurück, die „Meinungen, Wünsche, Absichten und Gefühle“ nicht nur artikulierbar, sondern auch zurechenbar macht, weil ein Ich sie äußert. Was Subjekte artikulieren können, steht zur gemeinschaftlichen diskursiven Erörterung, so dass für Erkennen und Handeln Intersubjektivität hergestellt werden kann. Der „Überlebenswert“ dieser Errungenschaft liegt auf der Hand: „mit der auf Grund der propositionalen Sprache ermöglichten Rationalität – dem Fragenkönnen nach Gründen – hat diese Spezies ein unvergleichlich höheres kognitives Niveau erreicht“.

Auf diesem einmal erreichten Niveau ist es jedoch zu einer gefährlichen Entfesselung rein instrumenteller Rationalität gekommen, die das „Fragenkönnen nach Gründen“ in ungerechtfertigte Grenzen weist. Sofern sich solche Fragen an moralischen Regeln orientieren, werden sie – unter dem Einfluss sozialdarwinistischer und neoliberaler Ideologien – im öffentlichen Raum allenfalls widerwillig geduldet. Moral wird gewissermaßen in einer Quarantänestation isoliert. Außerhalb wird weniger nach Zwecken, sondern fast nur noch nach Mitteln gefragt. Ein Zweck wie das bedingungslose Sich-Durchsetzen wird außerhalb des moralischen Limbus, den der Nahbereich bildet, kaum mehr kritisch reflektiert.

Unzweifelhaft kann die aus der Mystik gewonnene Haltung hier ein Gegengewicht setzen. Dessen Quelle ist dann aber eine andere als die Reflexion, denn diese besteht ja gerade darin, dass ein Ich (oder ein Wir, jedenfalls ein individuelles oder kollektives Subjekt, das grammatisch in der ersten Person fassbar ist) sich über die eigenen Gedanken und Handlungen Rechenschaft gibt. Es entsteht ein Dilemma: Die Vertreter der Spezies Mensch mit ihren evolutionär erworbenen, aber nichtsdestoweniger konstitutiven Eigenschaften, zu denen nach Tugendhat auch ihre Egozentrizität gehört, bewegen sich zwischen zwei Extremen: auf der einen Seite der Neigung, sich selbst allzu wichtig zu nehmen, und auf der anderen Seite der Tendenz zu vollständiger Selbstrelativierung.

Dass eine rein egozentrische Perspektive und die damit oft einhergehende schrankenlos egoistische Handlungsweise trotz mancher Aufwertung in neuerer Zeit nicht gut geheißen werden können, muss vielleicht nicht weiter begründet werden. In reiner Form kommt dergleichen ohnehin nicht vor. Solange Kommunikation darauf abzielt, Intersubjektivität herzustellen, werden solche Perspektiven und Einstellungen grundsätzlich relativiert. Schon aus technisch-praktischen Gründen kann die Gesellschaftlichkeit des Individuums nicht ignoriert werden. Unter den gegebenen Voraussetzungen kann man sich über dieser Tatsache allerdings noch nicht allzu schnell beruhigen, denn bestehende Machtverhältnisse und vorangetriebene Machtausdehnung wirken sich immer in hohem Maße kommunikationsverzerrend aus. Die Folgen derartiger kommunikativer Asymmetrien können weder der außermenschlichen Realität noch der sozialen Wirklichkeit gut tun. Mit dem „Willen zur Macht“ als einer auf die Spitze getriebenen Egozentrizität bleibt also zu rechnen.

Die Anziehungskraft der Mystik besteht zu einem guten Teil darin, dass sie der Macht abgeschworen zu haben scheint. Ob das wirklich der Fall ist, ist zu untersuchen. Sie ist nämlich andererseits dem Verdacht ausgesetzt, der Entfaltung der Macht geradezu Vorschub zu leisten, obwohl deren Neutralisierung doch als ihre Leistung gilt. Ob er sich bestätigen oder widerlegen lässt, ist zunächst eine Frage der Empirie. Wie ist es also um Führungsfiguren bestellt, die Mystik praktizierten, dazu anleiteten oder dies heute noch tun? Lässt sich eine kritische Position zu den gewalthaltigen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen ihrer jeweiligen Zeit registrieren oder erschöpft sich ihre Wirkung in der Demonstration eines bisweilen spektakulären, aber am Ende fruchtlosen Gesundbetertums?

Positive Beispiele scheint es in großer Zahl zu geben. So gilt der Lebenswandel, zu dem der heilige Franziskus nach einigen wilden Jugendjahren fand, zwar nicht unbedingt als verallgemeinerungsfähig, aber zweifellos als untadelig. Er soll unbestechlich gegenüber den Versuchungen seitens klerikaler Verkommenheit und allem Lebendigen liebevoll zugetan gewesen sein. Vielleicht ist es ungerecht, diejenigen unter seinen Vorstellungen hervorzuheben, die zu denen gehörten, welche das Mittelalter nicht heller, sondern doch vergleichsweise finster machten. Es genügt aber zu wissen, dass er sie – als Kind seiner Zeit – teilte. Sie reichten für seine Vereinnahmung durch Rom aus, die mit der Anerkennung seines Ordens offiziell vollzogen wurde.

Eindeutiger liegt der Fall bei dem nur etwa ein halbes Jahrhundert älteren Bernhard von Clairvaux. Er wird als Ordensgründer, Reformer, Kirchenlehrer und Mystiker gerühmt. Verschwiegen wird, dass er einer der übelsten Hassprediger des gesamten Mittelalters war. Er war ein fanatischer Vertreter des christlichen Antijudaismus, stachelte den Papst dazu an, zum Kreuzzug aufzurufen, und verfolgte zu Pferde den aus bekannten Gründen zu Fuß fliehenden unabhängigen Denker Pierre Abélard. Aus etwaigen Zuständen mystischer Verzückung hat er der Menschheit offenbar keinen größeren geistigen Gewinn mitgebracht.

Den arabischen Sufi-Dichter Al-Halladsch brachte seine mutige Missachtung jeglicher Orthodoxie an den Galgen. Sein Ausspruch „Ich bin die absolute Wahrheit“, der nach Annemarie Schimmel als Beschreibung des Resultats der Vereinigung des Heiligen mit Gott zu verstehen ist, lässt aber nicht nur bei Skeptikern ein unbehagliches Gefühl aufkommen. Wenn die mystische Verschmelzung mit dem Allmächtigen solche ausschließlichen Gewissheiten zeitigt, kann es nicht verwundern, dass dem sonst allgemein als außerordentlich friedfertig geltenden Sufismus der gewaltbereite Fanatismus gewisser ihm zugehöriger Strömungen nicht so fremd ist, wie man glauben sollte.

Der als Gottkönig und Erleuchteter verehrte Dalai Lama macht über regelmäßig abgesonderte freundliche Allerweltsweisheiten die Nachtseite des tibetischen Buddhismus vergessen, zu der blutige Kriege, ausbeuterisch-unterdrückerische Priesterherrschaft, jahrhundertelange Rückständigkeit und eine Anhängerschaft gehören, die entgegen den Versicherungen ihres Oberhaupts das Ziel einer gewaltsamen Rückeroberung ihrer von China okkupierten Heimat nicht aufgegeben hat. Man muss ihm die im Zeichen vermeintlicher religiöser Übereinstimmung arrangierte Begegnung mit dem späteren Tokioter U-Bahn Attentäter, dem Aun-Sektenchef Asahara nicht als Kontaktschuld anrechnen. Aber die wegen ihrer mystischen Spiritualität in hohem Ansehen stehende buddhistische Religion fand und findet immer wieder Anlass, das in ihr angeblich fest verankerte Gewalttabu zu brechen. So diente im zweiten Weltkrieg Zen-Meditation dazu, die Kampfbereitschaft der japanischen Soldaten zu steigern. Das Ergebnis waren ungeheuerliche Massaker. Dergleichen ist noch lange nicht Geschichte: Die unrühmliche Rolle der buddhistischen Religion im Konflikt zwischen Singhalesen und Tamilen auf Sri Lanka wird immer noch unterschätzt.

Die welthistorische Bilanz mystischer Erleuchtungen fällt nicht sehr überzeugend aus. Ursachen für etwaige gesellschaftliche Fortschritte wird man woanders suchen müssen. Das Unbehagen an der Mystik lässt sich am Begriff der Hingabe demonstrieren. Man gibt sich bekanntlich nicht einfach hin; man gibt sich an etwas hin. Wenn der Gegenstand der Hingabe als ein Unverfügbares definiert wird, ist das nur dann unproblematisch, wenn über dieses angeblich Unverfügbare nicht doch jemand anders verfügt. Sonst führt die beabsichtigte Auflösung des Ich im Unendlichen, das lustvolle Zu-nichts-Werden also, zu einer simplen Verschmelzung einer kleineren Einheit mit der größeren. Damit ist buchstäblich nichts gewonnen; es würde auch auf die Nazi-Parole passen: Du bist nichts, dein Volk ist alles. Wer sich zu einer der Nullen macht, vor die andere ihre Ziffer setzen, will nicht wissen, in welches Gefecht die so bezifferten Heerscharen geführt werden. Diese Selbstentmündigung machte den Kern jeglichen Sektierertums aus.

Ekstatische Entgrenzungserfahrungen können auf sehr unterschiedliche Weise entstehen. Georges Bataille hat dies, im Rückgriff auf Nietzsche und Freud zunächst abstrakt mit den Begriffsoppositionen Kontinuität und Diskontinuität, Verausgabung und Ökonomie operierend, an vielerlei Beispielen gezeigt. Einheits- und Ganzheitsgefühle (Kontinuität kann soviel wie Verbundenheit bedeuten) werden in Zuständen des Außer-sich-Seins und der Verausgabung empfunden. Diese Empfindungen kann ebenso jemand haben, der ein bestialisches Martyrium erleidet – nämlich dann, wenn er ganz Schmerz ist – , wie der Folterknecht, der alle Grenzen humanen Verhaltens überschreitet und sich zum besinnungslosen Instrument des Bösen macht. Der in seiner Gruppe aufgehende Hooligan fühlt randalierend nachweislich die Ekstase, die wir uns aus guten Gründen nicht leisten, sofern sie auf diesem Wege erreicht wird.

Die Massaker der Ketzerkriege wurden nach dem Grundsatz „Gott wird die Seinen schon erkennen“ an der Bevölkerung verübt, ohne dass man zwischen angeblich Rechtgläubigen und verfolgten Abweichlern unterschied. Die in diesem Blutrausch ekstatisch Schwelgenden konnten sich auf spirituelle Führer berufen, zu deren alltäglichen Praktiken Gebet und Meditation gehörten. Sie alle fühlten sich mit dem Willen des Allmächtigen eins.

All das soll Tugendhats These von der heilsamen Wirkung mystischer Versenkung nicht widerlegen. Es soll nur im Umgang mit den zahllosen Angeboten mystischer Wege darin erinnern, dass auch diese in ihrer unvermeidlichen Ambivalenz erkannt werden müssen. Darum sollte man sich auf eine Jahrtausende alte Tugend besinnen. Das griechische Wort dafür war sophrosyne. Gemolls „Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch“ hält folgende Übersetzungen bereit: „gesunder Sinn oder Verstand, vernünftige Besonnenheit, Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit, Mäßigung, Sittsamkeit“. Das ist nun die Aufzählung alles dessen, was Bataille mit den Begriffen Diskontinuität und Ökonomie erfassen will. Die Unterbrechung von Kontinuität durch Grenzziehungen verhindert ja gerade, dass entstehen kann, was in Ganzheitskategorien beschreibbar wäre. Und Ökonomie ist in dieser Perspektive ein das Subjekt auf das Bei-sich-Bleiben beschränkendes Zusammenhalten des durch Verausgabung in seinem Bestand Bedrohten.

Das liefe auf eine totale Negation der Mystik hinaus. Angesichts der Notwendigkeit eines Gegengewichts zur instrumentellen Vernunft, die im Dienste einer aus dem Ruder gelaufenen Egozentrizität nur katastrophale Auswirkungen haben könnte, würde damit eine der Quellen möglicher Abhilfe leichtfertig verschlossen. Denn es darf bezweifelt werden, dass solche Quellen rein rationaler Natur sein können. Andererseits ist darauf zu bestehen, dass Besonnenheit und Mäßigung erstrebenswerte Tugenden sind. Sie haben die Aufgabe, das Bedrohliche in Schach zu halten, das in allem Nichtrationalen lauert. Es bleibt dabei: Eine Grenze muss gezogen werden. Sie verläuft zwischen Arznei und Gift: Dosis facit venenum. Dies vorausgesetzt, gelangt man zu einer Strategie, wie sie Odysseus gegenüber den Sirenen anwandte. Mit ihr wusste er sich den Genuss des Sirenengesangs und das Überleben in der sonst tödlichen Nähe zu dessen Urheberinnen zugleich zu sichern. Die Fesselung und die Ausbeutung der künstlich Ertaubten verweisen auf die Unvollständigkeit des auf solche Art Erreichbaren. Das Perfektionsversprechen der Propagierer mystischer Wege ist naturgemäß trügerisch.

Durch Meditation hergestellte Verbundenheitsgefühle und Empfindungen des ekstatischen Außer-sich-Seins sind Zustände, aus denen man – sieht man etwa von indischen Yogis ab, die hier vernachlässigt werden können – wieder in die gewohnte Welt zurückkehrt. Was man aus jenen in diese noch mitnehmen kann, ist vage und abstrakt. Es ist schwer kommunizierbar. Die Kommunikation darüber erfolgt naturgemäß in konventionellen Bahnen. Die entsprechenden Konventionen haben ihre Wurzeln in religiösen Vorstellungen, die eine Welt beschreiben, die nicht mehr die unsere ist. Das ist eine Falle. Wer in sie gerät, lässt zu, dass historisch Überwundenes mit seinen Herrschaftsansprüchen zurückkehrt. Er verkennt, was für eine ungeheure Errungenschaft es bedeutet, sich zu Tradition kritisch verhalten zu können. Und er vergisst, dass dieses kritische Verhalten den besseren Teil der Mystik ausmacht, die oft genug zur jeweiligen Orthodoxie in Opposition stand. Wer verändert aus jenen Zuständen zurückfindet, sollte diesen Teil nicht in ihnen zurückgelassen haben.

Dieser bessere Teil ist darum auch kritischer Rationalität zugänglich oder sollte jedenfalls für sie offen sein. Das hat Folgen für den Begriff der Erleuchtung. Der Anspruch auf fraglose Autorität, der sich mit ihr verbindet, ist zurückzuweisen. Die Klärung der Frage, ob einer erleuchtet oder einfach nur ein Armleuchter ist, verlangt nach kritischer Prüfung: Man darf sich durch Charisma nicht blenden lassen. Die Antwort kann mithin nicht evident sein. Und wenn sie nicht evident ist, hat der Begriff der Erleuchtung keinen Sinn mehr. Die Antwort, die angeblich Erleuchtete in der Geschichte ihrerseits auf grundlegende Fragen gegeben haben, hat alles in allem wenig Klarheit geschaffen. The answer is: There is no answer.

Damit sind wir zu den unaufgelösten Widersprüchen in Platens Ghasel zurückgekehrt. Wir können trotz der scheinbaren Düsternis und des pessimistischen Grundtons dieser Verse in ihnen eine poetische Klärung der Voraussetzungen für den aufrechten Gang erkennen. Wir mögen allen Grund zur Selbstrelativierung haben; der Appell, sich nicht an unbegriffene Mächte zu verlieren, ist unterschwellig in diesem Text deutlich genug zu vernehmen. Die Verschränkung von „Liebe“ und „Kunde“ befähigt dazu. Der Schlussvers zeichnet eine Topographie, die den Bewegungsraum eines Subjekts ausmacht, das über den Mitteln nicht die Zwecke aus den Augen verliert und zugleich auch im wohlverstandenen Sinne nicht sich selbst. Wenn es schon glaubt, mit Hilfe der mystischen Tradition einen Energiezuwachs erfahren zu können, wird es die dadurch gegebenen Möglichkeiten nicht überschätzen.

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