Wissen, uralt

 

Sie wissen nichts, und ich weiß auch nichts, Herr Lüg.

Herbert Wehner


Karl Kraus warf Heinrich Heine vor, er habe „der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert (…), daß heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können.“ Die mit diesem polemischen Fehlurteil in die Welt gesetzte Metapher liefert ein Muster, dessen Anwendung sich in einem anderen Kontext geradezu aufdrängt. Ersetzt man Heine durch die Postmoderne und die deutsche Sprache durch das Denken, so wird mancher ein solches Bild der „geistigen Situation der Zeit“ nicht unangemessen finden.

Der postmoderne Großangriff auf Verbindlichkeit und intellektuelle Disziplin hat manche Begriffsruine hinterlassen. Der Begriff des Wissens fand sich in einem besonders ramponierten Zustand wieder. Man hatte ihm indessen schon vor poststrukturalistischen und konstruktivistischen Attacken mächtig zugesetzt. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen man als Gegenstand des Wissens noch die Wahrheit ausmachen konnte. Die dieser Auffassung zugrunde liegende Korrespondenztheorie der Wahrheit hat nicht mehr viele Anhänger; die „adaequatio intellectus ad rem“ will kaum jemand mehr als Definition durchgehen lassen. Stattdessen sind Begriffe wie „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“ Destruktionsobjekte eines eliminatorischen Konstruktivismus.

Wer darauf besteht, dass die Wahrheit gewusst wird, der Irrtum und die Lüge aber nur geglaubt werden, erscheint in diesem Klima als naiv. Festzuhalten bleibt allerdings, dass die Wahrheit als Gegenbegriff zur Lüge schon aus pragmatischen Gründen nicht aufgegeben werden kann. Denn die Wahrheit ist ein politisches Streitobjekt. Der Bürger verzeiht es nicht, hinters Licht geführt zu werden, wenn er denn wirklich ein citoyen ist. Die Behauptung, der Irak habe über Massenvernichtungsmittel verfügt, ist darum etwas qualititativ anderes als eine nur noch unter erheblichen Schwierigkeiten viable Konstruktion. Wer zielbewusst täuschen will, muss sich über die Unwahrheit der Informationen, die er verbreitet, im Klaren sein. Das heißt umgekehrt: Er muss in gewisser Hinsicht die Wahrheit wissen. Der Unterschied zwischen der falschen Information, die zum Schaden des Getäuschten geglaubt werden soll, und ihrem Gegenteil hat für den Lügner – sofern er nicht einfach ein Phantast ist – einen äußerst hohen Gewissheitsgrad. Dass die Lüge eine Lüge war, wusste George W. Bush insofern, als er etwas zu wissen behauptete, was er nicht wissen konnte. Die Behauptung, Beweise zu haben, war also schon falsch, als sie erhoben wurde. Zugleich musste notwendigerweise ihr Gegenteil der Wahrheit entsprechen: Es gab diese Beweise nicht. Mittlerweile ist das allgemein bekannt; deutlicher: Man weiß es. Es ist die geprüfte und verbürgte Wahrheit.

Manchmal führt es eben bloß zu albernen Verrenkungen, wenn man den radikalen Konstruktivismus allzu ernst nimmt. Ältere Relativierungen des Wissensbegriffs haben immerhin ihre Wahrheit daran, dass sie Mahnungen sind: Niemand sollte es sich mit der Behauptung, er wisse etwas, zu leicht machen. Um so mehr müssen die schon im Jahrhundert der Aufklärung mit der Prätention „höheren“ Wissens auftretenden Gegenbewegungen befremden. Mochte Svedenborg zumindest einen Teil seiner Visionen noch wirklich gehabt haben, so war der Erfolg eines Cagliostro vollends ein Armutszeugnis für alle, die auf diesen Scharlatan hereinfielen. Der intellektuelle Salto mortale des „Magus in Norden“ Johann Georg Hamann konnte vor diesem Hintergrund schon niemanden mehr in Erstaunen versetzen: Die Zeitgenossen nahmen den logischen Defekt seiner Argumentation schon nicht mehr wahr; er wollte allen Ernstes aus der radikalen Erkenntniskritik des atheismusverdächtigen Skeptikers David Hume die zwingende Konsequenz der bedingungslosen Selbstüberantwortung an einen radikalen Offenbarungsglauben ableiten. Die steile These, dass mit dem Nachweis der Unmöglichkeit sicheren Wissens ein bestimmter, nämlich der christliche Glaube felsenfest begründet sei, scheint für Hamanns glaubensbedürftige Zeitgenossen keine Zumutung dargestellt zu haben.

Hinzu kam, dass Hamann es verstand, sich durch die bewusste Verletzung der Prinzipien der Klarheit und Deutlichkeit eine fatale Autorität zu erschleichen; er verfuhr nach dem in der Tradition der Aufklärung eher ungebräuchlichen Grundsatz: Ex obscuro quodlibet sequitur. Sein Erfolgsgeheimnis bestand darin, den Leser mit der konzentrierten Energie des geistig nicht Nachvollziehbaren schlichtweg zu überfahren.

Diese Praxis ist für Obskuranten aller Art bis heute ein Modell geblieben. Die Sokal-Affäre hat dies auch für prominente Vertreter des Postmodernismus sichtbar gemacht. Der amerikanische Physiker Alan Sokal zeigte in seinem unter dem deutschen Titel „Eleganter Unsinn“ erschienenen Buch, dass eine ganze Reihe prominenter französischer Poststrukturalisten bei ihrem Versuch, die modernen Naturwissenschaften als Argumentationshilfe heranzuziehen, nur eines beweisen konnte: Sie alle wussten nicht, wovon sie redeten. Die durch die Affäre Blamierten und ihre Anhängerschaft zeigten danach keinerlei Bußfertigkeit. Das von ihnen verwendete und konsumierte Theoriedesign hatte sich zu fest etabliert, als dass noch jemand hätte zur Besinnung kommen können. Es scheint die Ansicht vorzuherrschen, dass es für intellektuelle Redlichkeit keine Maßstäbe mehr gibt.

Nach dem vor einigen Jahrzehnten proklamierten „Ende der großen Rahmenerzählungen“ bildet das Wissen keinen geschlossenen Kontinent mehr, sondern umfasst eine Art schwimmenden Archipel angeblich gleichberechtigt nebeneinander existierender geistiger Gebilde: Glaubenssysteme, wissenschaftliche Theorien, Philosophien, Ideologien, Mythen, Legenden, Religionen, Konventionen, soziale Konstruktionen und vieles andere mehr. Seine Rechtfertigung findet das alles lediglich noch im jeweiligen kulturellen Kontext. Dessen Beschreibung ist aber paradoxerweise nicht vom Boden jeder beliebigen der zahlreichen schwimmenden Inseln aus möglich, denn nicht jeder kulturelle Kontext sieht so etwas wie präzise Beschreibungen vor.

Eine Geschichte des Wissens kann unter solchen Voraussetzungen nicht mehr als eine Geschichte des Wissensfortschritts geschrieben werden. Die allmähliche Beseitigung von Irrtümern wird den um Wissen Bemühten nicht mehr als Verdienst angerechnet. Denn es handelt sich nur noch um eine Geschichte des vorläufigen Verbrauchs wechselnder Irrtümer. Genauer: Eine Geschichte des Wissens kann nichts anderes mehr aufzeichnen als die zufällige Abfolge dessen, was man im Lauf der Zeit zu wissen glaubte. So ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn es inzwischen kaum einem mehr auf den Unterschied zwischen Irrtum und Wahrheit, Vermutung und Wissen ankommt.

Man hätte im „Ende der großen Erzählungen“ eine Chance für ein durchaus wünschenswertes Mehr an Skepsis sehen können. Dazu ist es nicht gekommen. Die Gegenwart weist nämlich einige unangenehme Parallelen zum achtzehnten Jahrhundert auf. Damals warf die sich andeutende „Entzauberung der Welt“ durch die Aufklärung die verunsicherten Zeitgenossen auf Aberglauben, Scharlatanerie und Obskurantismus zurück. Heute öffnet die „Entzauberung der Vernunft“ durch die Postmoderne eben diesen Erscheinungen wieder Tür und Tor. Hatte schon Hamann, wenn auch fälschlicherweise, im Denken Humes die Vernunft entzaubert gefunden und sich an die Spitze einer Bewegung gesetzt, die sich ohne Umstände dem Irrationalismus in die Arme warf, so kann sich heute jeder noch Zurechnungsfähige an Marx’ Diktum erinnert fühlen, dem zufolge sich als Farce wiederholt, was sich einmal als Tragödie ereignet hat.

Wenn man von einer dergestalt satirisch instrumentierten diachronischen Betrachtungsweise zur synchronischen wechselt, lassen sich gewissermaßen zwei Wirklichkeiten voneinander unterscheiden: In der einen, der akademischen, „seriösen“, wird der Wissensbegriff nur noch mit spitzen Fingern angefasst und die Wahrheit allenfalls in Anführungszeichen gesetzt, in der anderen gehen in bemerkenswert großer Zahl diejenigen um, die man in unseliger Tradition als „Wissende“ bezeichnet. Dabei gibt es sowohl „Wanderer zwischen beiden Welten“ als auch wechselseitige Bezüge, welche durch grenzüberschreitende Anleihen den jeweiligen Begründungsbedarf sicherstellen sollen.

Das „objektlose“ Wissen der „Wissenden“ stellt sich bei näherer Betrachtung als ein alter Bekannter heraus: das mit Dolf Sternbergers berühmtem sprachkritischen Essay dem 1957 erschienenen „Wörterbuch des Unmenschen“ eingeschriebene „Wissen um“. Die Darumwisser wissen nichts, sondern geben raunend vorgetragene dumpfe und für alle Zeiten dumpf bleibende Ahnungen als überlegenes Wissen aus, ohne sich um die Gewissheitskriterien des „common sense“ zu scheren. Die Prätention prophetischer Schau enthebt sie profaner Zumutungen, wie sie diskursive Rechtfertigungen oder materiale Sachhaltigkeitsnachweise in den Augen ihrer Jünger darstellen würden. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, Sternberger im Wortlaut zu zitieren:

Die nichts Bestimmtes und nichts auf bestimmte Weise wissen, machen uns doch weis, sie seien nur um so tiefer eingeweiht. Sie sind nicht Unmenschen von der gewaltsam tätigen, sondern eher von einer um jeden Preis untätigen, lasterhaft geschämigen, zugleich verblasen hochmütigen und hochmütig verblasenen Art. Das Darumwissen drückt jene nichtsnutzige Sentimentalität aus, die sich nicht selten und nicht ungern mit der ehrfurchtslosesten Brutalität zu paaren vermag. Denn die Gegenstände des Darumwissens sind so wolkig, daß sie zu rein gar nichts verpflichten. Der Darumwisser ist von ernstlicher Erkenntnis ebensoweit entfernt wie von gläubig-bescheidenem Bekenntnis; er ist überall bloß auf halbem Wege und gibt doch vor, dem Erkennenden wie dem Glaubenden überlegen und selber in den Urgrund eingedrungen zu sein. Das Darumwissen ist das sprachliche Merkmal einer Ersatzreligion wie einer Ersatzwissenschaft. Der Mensch aber muß an so viel falschem Qualm ersticken.

Man mag einräumen, dass heutzutage von den einschlägigen Vertretern nicht immer vollständig auf Rechtfertigungen verzichtet wird. Wenn etwa in der Esoterikszene von „uraltem Wissen“ die Rede ist, wäre der konservative Topos einer Legitimation durch das Alter als eine Art justifikatorisches Spurenelement auszumachen. Dass Alter nicht vor Torheit schützt, ist jedoch eine Weisheit, deren Alter (!) sich mit dem der Menschheit decken dürfte. Und nicht allein als Begründung politischer Autorität gehört die Legitimation durch das bloße Herkommen seit gut und gerne zweieinhalb Jahrhunderten zu den erledigten Fällen.

Ungeachtet solcher Einwände vertritt der zeitgenössische Typus des objektlos Wissenden den Anspruch, sich den Sinn für das Ursprüngliche bewahrt, ja die verlorengegangenen Ursprünge der Menschheit wieder erschlossen zu haben. Die romantische Sehnsucht nach dem Ursprung, nach einer ursprünglich heilen Welt ließ sich immer schon leicht ausbeuten. Sie bildet hier den Rohstoff für ein Produkt, das den Konsumenten abhängig macht und seiner geistigen Abwehrkräfte beraubt. Die Ideologie nährt sich als das trotz seiner Unwahrheit Zwingende davon, dass sie ihre Anhänger subjektiv erleben lässt, was objektiv niemals existiert haben dürfte: Ganzheit und Gleichgewicht. Sich im Einklang mit sich selbst, den anderen und der Natur befinden zu können, ist ein Traum, der die Menschen aller Zeiten und Herkünfte verbinden mag. Das Bestehen auf seiner restlosen Erfüllbarkeit ist es, was sie trennt. Denn die Erfüllung wäre an konkrete Formen gebunden, deren Konsensfähigkeit aufgrund ihrer kulturspezifischen Relativität mehr als zweifelhaft ist. Die Höhe des Streitwertes macht es andererseits unmöglich, etwas auf sich beruhen zu lassen und auszuhalten, was an dem „entfremdeten“ Zustand unabänderlich ist.

Vorgeschobenes „Wissen um Ursprünge“ ist „polemogen“; es ist eine Quelle schwerwiegender gesellschaftlicher Störungen, weil es diskursive Formen der Konfliktaustragung nicht zulassen kann. Ein Modell für die Exklusionstendenz des vorgeblich Integrativen ist das Weltbild der Theosophie: Helena Blavatskys Projekt, die Mythen, Religionen und magischen Praktiken der Welt unter Bevorzugung östlicher Lehren zu einer metaphysischen Ursuppe zu verkochen, brachte keine menschheitsumarmende Hyperreligion hervor, sondern mündete in unverhohlene rassistische Ausgrenzung. So konnte die Theosophie über esoterische Wirrköpfe wie Lanz von Liebenfels, dessen Einfluss Hitler unterlag, die Naziideologie beflügeln.

Gemeinsames Hassobjekt irrationalistischer Weltbilder sind Aufklärung und Moderne. Das Sündenregister der instrumentellen Vernunft wird zum Anlass genommen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Nicht der Herrschaft des Kapitals, die den Dingen das Leben austreibt, indem sie sie in Waren verwandelt, wird bekämpft, sondern die Herrschaft in Frage stellende kritische Vernunft. Sie wird beschuldigt, den ursprünglichen Zustands eines Gleichgewichts mit der Natur, in welchem die Menschen angeblich ganz sich selbst gehörten, zerstört zu haben. Es fragt sich nur, wie das Bedürfnis aufkommen konnte, einen so vollkommenen Zustand zu beenden. Die nahe liegende Schlussfolgerung, dass Gleichgewicht nie gegeben war, liegt außerhalb des obskurantistischen Horizonts.

Hobbes’ Schilderung des ganz und gar unparadiesischen Naturzustandes als „einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben“ bezeichnet etwas, dem alle Menschen der bisherigen Geschichte zu entfliehen bestrebt waren. Die Menschen hatten nur eine Überlebenschance als ihrem unerträglichen Ursprung Entsprungene. Als reine Naturwesen sind sie nicht existenzfähig. Wissen, die entscheidende Voraussetzung des Überlebens, ist nichts Naturgegebenes, sondern ein Kulturgut. Nur wer seinen natürlichen Ursprüngen entkommen ist, ist unwiderruflich dazu bestimmt, es zu erwerben und so das weitgehende Fehlen von instinktiv Gegebenem zu kompensieren. Darum zerbrechen sich Menschen den Kopf über die Wahrheit oder Unwahrheit ihrer Vermutungen und ersinnen Wege, sich Gewissheit zu verschaffen. Über solche verfügt die menschliche Spezies nicht von Natur.

Alle Mythen, die von der Herkunft kultureller Errungenschaften berichten, sind erfüllt von Trauer über den unwiederbringlichen Verlust animalischer Verhaltenssicherheit. Entsprechend gehören zu den Traditionen der Völker die vielfältigen Varianten des Mythos eines verlorenen Paradieses. Kein Volk kann als Träger privilegierten Wissens in Betracht gezogen werden, als ob es etwa mit seiner Kultur einen ursprünglichen Paradieseszustand repräsentierte. Dass Kulturen einen solchen Zustand bewahren und uns uraltes Wissen im Sinne ewiger Wahrheiten offenbaren könnten, ist angesichts der naturwüchsigen Bedingungen des fortschreitenden Kulturprozesses außerordentlich unwahrscheinlich.

Es mag z. B. vorübergehend verloren gegangene medizinische Praktiken geben, deren Wirksamkeit – wie manchmal die bewährter alter Hausmittel – sich den Produkten der pharmazeutischen Industrie als überlegen erweist. Weltbilder, denen zufolge die Erde eine Scheibe ist, demütig zu übernehmen, weil sie mit Hilfe mythischer Vorstellungen die Wirkungsweise der entsprechenden Heilkunde angeblich auf die einzig adäquate Weise erklären, wäre dann doch zu absurd. Die Übernahme von Elementen des Wissens fremder oder so genannter primitiver Kulturen mag bisweilen sogar angebracht scheinen. Aber man soll sich nicht täuschen lassen. Wer sich durch das Gefühl des Scheiterns der westlichen Zivilisation zur Suche nach exotischen Gegenmodellen veranlasst sieht, wird eines ganz gewiss nicht finden: das Bild einer endgültigen und perfekten Ordnung des Wissens und des gesellschaftlichen Seins. Die bloße Existenz des Fremden garantiert nicht die Falschheit des Eigenen, das den meisten ohnehin unbekannt geblieben ist.

Erinnert sei an die systemtheoretische These, dass Systeme nur sich selbst verstehen. Das heißt hier: Es kommt darauf an, ob Wissen anschlussfähig ist. Es muss nach dem Code verstanden werden können, der dem gesellschaftlichen Teilsystem zugrunde liegt, das die Aufgabe hat, neues Wissen zu erzeugen. „Uraltes Wissen“ kann insofern, gerade wenn es sich um vergessenes, verdrängtes oder verbanntes Wissen handelt, nur als neues Wissen geltend gemacht werden. Das System, das der Erzeugung neuen Wissens dient, ist die Wissenschaft. Sie wird von nahezu allen zum Zeugen aufgerufen. Um als Wissen anerkannt werden zu können, müssen die entsprechenden Aussagen darum zur Ausdifferenzierung des sozialen Teilsystems Wissenschaft geeignet sein. Anderenfalls lassen sie sich nicht aus dem Zusammenhang eines amorphen Draußen herauslösen oder nisten sich als eine Art Fremdkörper in einer ortlosen Blase ein. Gewissheit oder – vorsichtiger ausgedrückt – ein hoher Wahrscheinlichkeitskoeffizient kann sich ohne den Kontext des Systems nicht einstellen. Es hilft also nichts: Die Mühe, die es macht, Anschlussfähigkeit zu überprüfen, darf man sich nicht ersparen. Das durch Alter, Ursprünglichkeit oder bloßes Anderssein Überlegene existiert nicht.

Nicht „wissend“, aber weise war im Vergleich zu dem im Gefolge der Postmoderne auftretenden Obskurantismus seinerzeit Heinrich von Kleist, der ausdrücklich die Möglichkeit eines Rückwegs ausschloss:

Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.

1 Kommentar zu „Wissen, uralt“

  1. eva de voss sagt:

    Wissen, uralt

    Als ich den Artikel las, musste ich seit langem wieder einmal an Kandinsky denken, durch dessen Hauptwerk „Über das Geistige in der Kunst“ ich mich seinerzeit zu Studienzwecken gequält habe. Im Anschluss an die Lektüre fragte ich mich damals, ob wohl jeder, der dieses Werk im Munde führt und als einen Leittext für die theoretische Rechtfertigung der Abstraktion in der Kunst preist, es wirklich gelesen hat – vielleicht ist es für die Kunstwissenschaft das, was der „Mann ohne Eigenschaften“ von Musil für die Germanistik ist?
    Damals kam es mir so vor, als schlüge ein sich hoch intellektuell gerierender Antiintellektualismus prunkvolle Pfauenräder und verhüllte mit metaphorischem Getöse die Tatsache, dass da nichts ist. Hier finde ich den Anknüpfungspunkt an Deine Gedanken.
    Ja, ich glaube, es ist mit Kandinsky ganz so wie mit des Kaisers neuen Kleidern, nur kann hier kein Kind ausrufen: „Aber er hat doch gar nichts an!“, weil er weit schlechter zu durchschauen ist als betrügerische Weberknechte.
    Ein beliebig herausgegriffenes Zitat auf Seite 43 der Ausgabe von 1952 mag dies verdeutlichen:
    „[…] wenn die äußeren Stützen zu fallen drohen, wendet der Mensch seinen Blick von der Äußerlichkeit ab und sich selbst zu.
    Die Literatur, Musik und Kunst sind die ersten empfindlichsten Gebiete, wo sich diese geistige Wendung bemerkbar macht in realer Form. Diese Gebiete spiegeln das düstere Bild der Gegenwart sofort ab, sie erraten das Große, was erst als ein kleines Pünktchen nur von wenigen bemerkt wird und für die große Menge nicht existiert.“
    Man könnte das schiefe Bild vom Großen, das als kleines Pünktchen daherkommt, vielleicht mit der Tatsache entschuldigen, dass Kandinsky Deutsch nicht als Muttersprache sondern allenfalls als Großmuttersprache (diese war aus Riga) gegeben war, wenn nicht das ganze Buch von derlei Passagen wimmelte, ein letztes Beispiel von S. 46:
    „Diesen reinen Klang hören wir vielleicht unbewusst auch im Zusammenklange mit dem realen oder später abstrakt gewordenen Gegenstande. Im letzteren Fall aber tritt dieser reine Klang in den Vordergrund und übt einen direkten Druck auf die Seele aus. Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration“ […] etc.etc.
    Das ist absichtlich produzierte heiße Luft, überflüssig zu sagen, dass Kandinsky wie andere intellektuelle Zeitgenossen auch, ein glühender Anhänger der auch in Deinem Essay erwähnten Madame Blavatsky war. Sein ganzes Werk wimmelt von „Vibrationen“, „Sensationen“, „Ereignissen“ und „Erlebnissen“; vorrationale Sphären werden beschworen, um Produktion und Rezeption von „geistiger“ Kunst zu umreißen.
    Berühmt geworden sind u.a. die von Kandinsky gezogenen Parallelen zwischen Musik und Malerei, die sich in so originellen Anmerkungen ergehen, dass Gelb der Trompetenton, Violett das Cello sei usw. Wer ein wenig von Musik versteht, erkennt darin das Wortgeklingel eines Ahnungslosen: Kandinsky war ein Musik liebender Laie, der in seiner Jugend ein wenig Cello gespielt hatte und mit Schönberg befreundet war. Bilder wie z.B. „Improvisation I-V“ sind sehr bunt, zum teil rauschhaft farbig, denn sie sollen nach Kandinskys Worten etwas Orchestrales haben – gedacht ist hier an ein spätromantisches Sinfonieorchester von Mahler’schen Ausmaßen, – was gerade die Arbeiten aus der Murnauer Periode durchaus eindrucksvoll macht. Ich halte sie für seine besten, wenn ich das sie begleitende „Theorie“getöse zu vergessen versuche.
    Wie anders sein Zeitgenosse und Kollege am Bauhaus, Paul Klee! Der war eine musikalisch/bildnerische Doppelbegabung, spielte konzertreif Bratsche und suchte in seinen Arbeiten immer wieder die intellektuell-formale Auseinandersetzung mit dem Formrepertoire der Musik. Weil er wusste, was eine „Fuge“, ein „Kanon“ oder ein „Thema mit Variationen“ ist, darum sind seine Gemälde mit solchen Titeln auch so überzeugend, seine Rekurse auf die Musik unterfüttert mit musikalischem Sachverstand . Wenn er Theoretisches schrieb, so hatte es einen Bezug zu seiner Lehrtätigkeit am Bauhaus und z.B. zu der Naturauffassung des von ihm bewunderten Leonardo da Vinci, dessen Werk er intensiv erforschte. Derlei sucht man bei Kandinsky vergebens – nur Geschwurbel.
    Seit der Romantik geht es immer wieder um die Aufhebung der Grenzen zwischen den Künsten, zwischen Musik und Sprache in der Lyrik und auch zwischen Musik und Malerei; hier ist auch Kandinsky einzuordnen. Dieser gedanklichen Strömung wurde seinerzeit eine hochinteressante Ausstellung gewidmet („Vom Klang der Bilder“ Staatsgalerie Stuttgart 1985). Kandinsky ist in diesem Rahmen der einzige Maler, der mit einer „Theorie“ der oben skizzierten Art daherkommt. Gerade in diesem Kontext zeigt sie ihre ganze Schalheit. Kandinsky hat während seiner Bauhaustätigkeit noch ein weiteres Werk verfasst, „Punkt und Linie zu Fläche“, das nur auf den ersten Blick aufgrund des Titels nüchterner wirkt. Bei näherem Hinsehen geht das Geschwurbel weiter. Ich habe zu Zeiten intensiv nach einem Zugang zu diesen Schriften gesucht und keinen gefunden. Heute dämmert es mir, dass das wohl weniger an mir, als an Kandinsky lag.

    Interessant finde ich im Zusammenhang mit Deinen Ausführungen auch die Gedanken zur Sehnsucht nach der verloren gegangenen Ganzheitlichkeit eines vermeintlich paradiesischen Urzustandes mit ganzheitlichem Wissen, ungebrochener Persönlichkeit etc.
    Kommt so was nicht immer in Zeiten des Umbruchs und der Verunsicherung auf? Sind wir nicht momentan wieder mal in einer solchen? (übrigens war ja bekanntlich auch die Jahrhundertwende, der die erwähnte Schrift Kandinskys entstammt, von „Krisenstimmung“ gezeichnet.)
    Ist das, was Du in Deinem Artikel monierst, nicht generell und immer ein Zeichen von Verunsicherung in einer unüberschaubaren und- ganz wichtig! – gottlosen Welt?
    Man hätte es eben gern einfach und alles ist so schwierig, unübersichtlich, unmoralisch, das Leben ist endlich – heute im Zeitalter der Globalisierung und des unstrukturiert jederzeit verfügbaren unendlichen Informationsstroms mehr denn je. „… weil da nichts ist, an das man sich halten kann“ (Brecht: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny)

    Intellektuelles Bauchgrimmen über Irrationalismus der anderen und deren Flucht in „uraltes Wissen“ führt zu nicht außer zu intellektuellem Unglücklichsein – niemand wird bekehrt durch Essays wie dem Deinen, er erreicht ja nur Menschen, die das alles ähnlich sehen wie Du. Ich plädiere für lächelnde Nachsicht gegenüber all denjenigen, die ein wenig Halt und Wärme in dieser chaotischen Welt suchen, sei es in den Armen eines selbst ernannten Schamanen, sei es in den Armen der sancta ecclesia (beten wir, dass er es an ehrwürdigen Orten wie Kloster Ettal oder dem Collegium Germanicum nicht bereut …).
    Nicht jeder hält das „Geworfensein“ in die Welt aus, nicht jeder kann darauf mit einem „sum ut fiam“ antworten.

    Zum Schluss – gewissermaßen als Satyrspiel – noch eine Anekdote zu „uraltem Wissen“:
    In der Familie meiner Mutter hielt sich seit Generationen hartnäckig die Mär, man könne Tomaten und Milch gemeinsam nur bei akuter Gefahr für Leib und Leben verzehren.
    Ähnlich drastische Speiseverbote begegneten mir immer wieder in Gesprächen mit Bekannten, wobei die verbotenen Speisen von Blutwurst mit Senf über Tomaten mit Zucker (wieder Tomaten!)bis zu was weiß ich reichten.
    Ich erbrachte den Beweis für den Unsinn des Tomatenglaubens, indem ich vor den Augen meiner Mutter gerade Tomaten und Milch verzehrte (ich glaube, ich war kurz vor dem Abitur). Wie man sieht, lebe ich noch heute und seit der Zeit war zumindest dies uralte Wissen als Aberglaube entlarvt.
    Mein bescheidener Beitrag zur Aufklärung…

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