Archiv für Februar 2012

Tierethik

Mittwoch, 8. Februar 2012

So gibt es in Japan eine Sekte, die alle Fragen und alle Schwierigkeiten durch Säbelhiebe löst, und dieselben Männer, die sich kein Gewissen daraus machen, sich gegenseitig umzubringen, schonen mit höchster Religiosität die Insekten.

Aus dem mit „Deleyre“ gezeichneten Artikel „Fanatismus“ in der „Enzyklopädie“

In Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ spricht der Hofrat Behrens eine ebenso simple wie unangenehme Wahrheit aus: „Leben ist hauptsächlich auch bloß Sauerstoffbrand des Zelleneiweiß… Tja, Leben ist Sterben, da gibt es nicht viel zu beschönigen, – une destruction organique, wie irgendein Franzose es in seiner angeborenen Leichtfertigkeit mal genannt hat.“

Behrens, der vom naturwissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts geprägt ist, vermag mit dieser im Plauderton trocken hingesagten Tatsachenfeststellung zu verstören. Man kann aber noch weiter gehen, ohne die von den Positivisten streng eingehaltene Grenze zur Spekulation zu überschreiten: Leben nährt sich von Leben, es ist darum nicht nur Sterben, sondern auch mehr oder weniger aktiv betriebene Vernichtung anderen Lebens, mit anderen Worten: Töten. Der Organismus des einzelnen Lebewesens bildet nicht allein passiv den Schauplatz organischer Destruktion; allem Lebendigen sind darüber hinaus seine Destruktionsobjekte zugewiesen, als Gegenstände von Aktionen, die den Zweck erfüllen, den erstgenannten „intransitiven“ Destruktionsprozess aufzuhalten. Diese Handlungen umfassen die Aufnahme und Verarbeitung von Nahrung ebenso wie die Herstellung der dafür notwendigen Voraussetzungen, ja Herstellungsprozesse aller Art. Bei der menschlichen Spezies gehören hierzu nicht nur alle konstruktiven Schutzmaßnahmen; es gehört auch alles dazu, was der Notwendigkeit folgt, die eigenen Lebensmittel bewusst zu produzieren. Jahrtausende bevor der zweite Hauptsatz der Thermodynamik formuliert wurde, hatte man sich mit dieser wenig erhebenden Trivialität abzufinden: Kein Aufbau ohne den vorherigen oder gleichzeitigen Abbau der Aufbauelemente. Radikaler formuliert: Kein Aufbau ohne Zerstörung.

Der Schrecken darüber ist nicht ursprünglich, aber er ist auch nicht neu. Er trägt über die Grenze zur Spekulation hinweg, sobald die Idee einer den Raum notwendiger menschlicher Interaktion sprengenden metaphysischen Schuld auftaucht. Zu extremen Konsequenzen führt diese Idee in einigen Religionen, beispielsweise dem Jainismus und dem Manichäismus. Das Ahimsa der Jaina, das Prinzip, keine Lebewesen zu verletzen, diente der Befreiung von angehäuftem Karma, war also an mythisch-religiöse Voraussetzungen gebunden, welche die Gläubigen mit einer Art Bann belegten. Sich von ihm zu befreien ist bis heute in Indien Privileg derer, die es sich leisten können: Alle unvermeidlichen Tätigkeiten mit „verletzenden“ Nebenwirkungen werden an gesellschaftlich schlechter Gestellte delegiert. So ernst scheint die jainistische Distanzierung vom Kastenwesen nicht gemeint zu sein, als dass die verletzenden Folgen karmischer Vorteile in Betracht kämen.

Der zwei Jahrhunderte nach der Zeitenwende im mittleren Osten entstandene Manichäismus dehnt das Verletzungsverbot auf die Pflanzen aus und spaltet die Gemeinde in electi und auditores. Letztere hatten die Dienste zu verrichten, welche jene zwecks Lebenserhaltung zwar in Anspruch nehmen mussten, aber um ihrer Reinheit und ihres Heiles willen nicht selbst ausüben durften.

In beiden religionsgeschichtlichen Beispielen fand das anderen Lebewesen ersparte Leid vermittels der Herrschaftsverhältnisse seinen Weg zu den Menschen. Den Preis der Schonung, welche die dünne Herrschaftsschicht Tier und Pflanze angedeihen ließ, bezahlte die ihrer Botmäßigkeit unterworfene Majorität der eigenen Art. Das körperliche Elend der ausgebeuteten Masse fand seine psychische Ergänzung in angeblich schlechtem Karma oder im Zittern um das eigene jenseitige Seelenheil. Wer den aus solchen kulturellen Kontexten abgeleiteten Geboten nicht zu folgen gewöhnt war, musste sie zudem als groteske Zumutung empfinden. Der jainistischen Praxis, Gazeschleier vor dem Mund zu tragen, um das Inkorporieren von Mikroorganismen zu verhindern, oder vor jedem Schritt den Boden zu fegen, damit man keine Insekten zertritt, können auch heute nur Luxusexistenzen gehorchen, die von den elementaren Anforderungen des Lebens freigestellt sind.

Der Vorsatz, die Quantität des Leidens in der Welt nach Kräften zu vermindern, führt offensichtlich in die Irre, wenn man glaubt, den qualitativen Aspekt, die spezifischen Eigenschaften der menschlichen Art mit ihren besonderen Lebensbedingungen und geschichtlichen Entwicklungsmöglichkeiten leugnen oder vernachlässigen zu können. Damit ist noch nichts über eine vor anderen Spezies ausgezeichnete Sonderstellung gesagt. Das Universum kennt keine Hierarchien. Besonderheiten dürfte es so viele kennen, wie es Arten gibt. Eine menschliche Besonderheit besteht in der Notwendigkeit, sich selbst zurechtlegen zu müssen, was der eigenen Art gemäß ist. Damit stehen regelmäßig moralische Normen zur Diskussion. Auch angesichts der Frage nach den Grenzen artübergreifender Leidvermeidung  kommt man um die kritische Auseinandersetzung mit den einschlägigen ethischen Begründungszusammenhängen nicht herum.

Die Debatte über  das hier angesprochene Problem ist von maßlosen moralischen Vorwürfen gekennzeichnet. Man darf sich aber schon um der Sache willen nicht von der weit verbreiteten Tendenz zu selbstgewissem Moralisieren mitreißen lassen. Die Gefahr einer solcherart verzerrten Perspektive zeigt sich besonders deutlich angesichts der seit einiger Zeit aufgekommenen Verwendung des Speziesimus-Begriffs. Es handelt sich dabei um eine begriffliche Kreation eindeutig polemischen Charakters, eine Analogiebildung zu Rassismus oder Sexismus, Begriffen also, die Haltungen bezeichnen, welche zu Recht gesellschaftlich geächtet sind. Die Speziesismus-Kritik richtet sich prinzipiell gegen jede denkbare instrumentelle Beziehung zum Tier, gegen die Erzeugung und Aufnahme tierischer Nahrung ebenso wie gegen den Einsatz tierischer Arbeitskraft. Kein Tier darf nach Ansicht radikaler Tierschützer als Ressource aufgefasst werden. Verlangt wird ein entschiedener Bruch mit bestimmten Praktiken, vermittels derer der Mensch bisher seine eigenen Lebensgrundlagen produziert hat. Nur durch die Einleitung eines solchen Wandels kann er sich angeblich einem Vorwurf entziehen, der ihn innerhalb der Natur mit den Massenmördern, Ausbeutern und Unterdrückern der Geschichte gleichsetzt. Wir haben es mit einem säkularisierten Manichäismus zu tun, der unter den Bedingungen der Moderne immerhin noch großzügig genug ist, auf ein Verbot pflanzlicher Nahrung zu verzichten. An die Stelle der Androhung jenseitiger Strafen ist die diesseitige moralische Herabwürdigung getreten. Der bekannte Religionskritiker Karlheinz Deschner etwa dekretiert: „Wer Tiere isst, steht unter dem Tier.“

Kaum jemand, der sich damit gemeint fühlen soll, wird für eine solche Aussage mehr als ein Achselzucken übrig haben. Speziesismus-Kritiker sind keine allzu bedeutende gesellschaftliche Kraft. Aber wenn man registriert, was auf der Welt Tieren von Menschen geschieht, kann man Schmähungen wie die gerade zitierte so unverständlich nicht finden. Es ist nicht zu leugnen: Eine Spezies fühlt sich berechtigt, an anderen Arten zu exekutieren, wozu sie die Macht hat – ohne Legitimation als eben durch die Tatsache der Macht. Die Folgen müssen die „Solidarität mit den quälbaren Körpern“ (Adorno) mobilisieren. Wie eine solche Solidarität konkret aussehen könnte und wie weit sie gehen sollte, ist jedoch durchaus nicht klar. Es ist nicht klar, weil unter ihren expliziten und unausgesprochenen faktischen und normativen Voraussetzungen selbst große Unklarheit herrscht.

So verweigert sich die antispeziesistische Fraktion der Tierschützer der Einsicht, dass praktisch keine Spezies es ganz vermeiden kann, sich speziesistisch zu verhalten. Löwe und Lamm werden nur nebeneinander liegen können, wenn das Lamm nach Verbrauch täglich ersetzt wird. Die Existenz von Fressfeinden und die Auswirkungen von Nahrungsmittelkonkurrenz sind durchgängig beobachtbare Phänomene. Kooperation kommt in der Natur zwar vor, doch eher als evolutionärer Vorteil gegenüber Feinden oder Konkurrenten denn als nachahmungsfähiges Verhaltensmuster. Frieden wird man daher in der Natur als Ausnahmefall betrachten müssen. Menschen haben nur begrenzte Entscheidungsspielräume, wenn es darum geht, dem Ideal, die Verletzung anderer Lebewesen zu vermeiden, näher zu kommen. Der Speziesismus-Begriff scheint insofern ungeeignet zu sein, das entsprechende moralische Verbot zu begründen.

Die philosophische Tradition, aus der die hier zur Diskussion stehende Argumentation stammt, ist die des Utilitarismus. Die Wortführer der antispeziesistischen Bewegungen begründen die Forderung nach einer allgemein verbindlich zu machenden veganen Lebensweise mit Hilfe des Interessenbegriffs: Mensch und Tier hätten „ähnliche Interessen“ (Kaplan). Daran ist eines richtig: Der „Wille zum Leben“ ist allem Lebendigen gemeinsam. Ignoriert wird jedoch, was Schopenhauer als die „Entzweiung des Willens“ bezeichnet und wofür die Beispiele bereits genannt wurden, der Widerstreit der unterschiedlichen „Interessen“. Die utilitaristisch geprägten Vertreter des Veganismus gehen von einer nicht sehr überzeugenden Naturvorstellung aus. In ihr besitzt alles, was lebt, Bürgerrecht in einer universalen demokratischen Republik – im Zeichen einer das „größte Glück der größten Zahl“ garantierenden natürlichen Harmonie.

Der logische Fehler wird sichtbar, wenn man nach der Instanz fragt, die das Bürgerrecht verleiht. Die Souveränität des Gewährens und Verweigerns liegt allein bei der menschlichen Gattung. Die Forderung, dieses Bürgerrecht allgemein werden zu lassen, wird aber üblicherweise durch das Hilfsargument unterstützt, der Mensch sei nicht der Natur gegenübergestellt, sondern ein Teil von ihr und habe dies als Tatsache anzuerkennen. Diese Aussage ist empirisch falsch: Der Mensch ist nicht überlebensfähig ohne die Kultur, die ihn von der Natur trennt und von anderen Naturwesen unterscheidet.

Wird jene Falschaussage aufrecht erhalten und die qualitative Gleichheit der menschlichen Spezies mit anderen behauptet, so steht dies im deutlichen Widerspruch zu der Forderung, der Mensch solle im vorherrschenden Kriegszustand der Arten den Frieden ausrufen – und sich als einziger an ihn halten. Er wäre dann unweigerlich eine Art „Hirte des Seins“ (für Heidegger in diesem Fall wohl eher Hirte des Seienden), eine paternalistische Instanz, die ein mit besonderen Pflichten verbundenes Sonderrecht wahrnimmt und eben nicht mehr einfach nur ein Teil der Natur. Der Entschluss, dem Aufruf zum Frieden mit der belebten und beseelten Natur zu folgen, würde eine Kulturleistung ausmachen. Der normative Inhalt einer friedenssichernden Rechtsordnung ließe sich jedenfalls aus der Natur nicht ableiten. Überhaupt ist es nicht möglich, in diesem Zusammenhang mit dem Rechtsbegriff zu operieren.

Der Begriff der Tierrechte beruht auf einer unzulässigen Vermenschlichung. Sie besteht unter anderem in der Idee, Tieren angeborene Rechte zuzusprechen, wie es die seit dem 17. Jahrhundert entwickelten Naturrechtstheorien für alle Menschen tun. Auf diese Weise soll die Aufnahme der Tiere in die Rechtsgemeinschaft begründet werden. Die Rechtsgemeinschaft macht den Geltungsbereich aller denkbaren Rechtssysteme aus und setzt sich aus Rechtssubjekten zusammen. Genauer: Durch das komplementäre Verhältnis ihrer Rechte und Pflichten sind Rechtssubjekte zu einer Rechtsgemeinschaft verbunden. Rechtssubjekte zeichnen sich mithin dadurch aus, dass sie Rechte legitimerweise beanspruchen und verlässlich respektieren können sowie den sich daraus ergebenden Pflichten ebenso verlässlich nachzukommen in der Lage sind. Die Befolgung der einschlägigen Gebote und Verbote setzt die gemeinschaftliche Anerkennung der Rechtsgüter voraus, die durch die Einhaltung entsprechender Rechtsnormen zu wahren sind. Diese Anerkennung gründet in einer Fiktion: Sie kommt bis heute nicht aus ohne die Idee des Vertrags. Ein Vertrag wird als ein „Als-ob“ vorausgesetzt: Die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft verhalten sich, als ob sie sich zur Wahrung der Rechtsgüter vertraglich auf die Geltung der Rechtsnormen geeinigt hätten. Ohne formellen Vertragsschluss gilt der Genuss der Vorteile des Rechtssystems als Zustimmung.

Das Aushandeln wie das Verstehen und Interpretieren von Verträgen setzt Sprachfähigkeit voraus, außerdem Abstraktionsvermögen und die Befähigung zu logisch konsistenten gedanklichen Konstruktionen. Nichts davon ist selbst bei den am weitesten entwickelten so genannten höheren Tieren anzutreffen. Normbefolgung bei Tieren im Sinne eines moralanalogen Verhaltens muss auf andere Prämissen zurückgeführt werden. Ihr geht kein Willensakt voraus, der – außer in Ansätzen bei Menschenaffen – Ergebnis von Überlegung und Einsicht ist. Man kann keine Wesen in eine Rechtsgemeinschaft aufnehmen, deren Verhalten sich auf nichts beziehen lässt, das rechtsförmig wäre. Kurz: Tiere sind keine Rechtssubjekte, denn sie sind nicht vertragsfähig. Das Recht ist und bleibt eine innere Angelegenheit der menschlichen Spezies.

Partnerschaft mit Tieren ist nur mit wenigen Arten möglich und insofern in der Natur eher die Ausnahme als die Regel. Sie fällt unter keine Kategorie, die mit der Vorstellung einer Rechtsgemeinschaft in Verbindung gebracht werden könnte. Keine der sich aus neueren Forschungen ergebenden Relativierungen hebt die Grenze zwischen Mensch und Tier gänzlich auf. Jemand, der sie leugnet, muss sich zudem fragen lassen, warum er nicht konsequenterweise gleich die Maximallösung der Manichäer propagiert und auch die Grenze zwischen Tier und Pflanze einreißt, denn auch diese ist fließend. Der Hungertod der mächtigsten Spezies wäre spätestens dann die einzige moralisch vertretbare Perspektive, wenn an die Stelle der manichäischen Klassenspaltung das Gleichheitsprinzip tritt.

Aber das ist noch nicht alles:  Wollte man dem Tier des Status eines dem Menschen gleichgestellten Rechtssubjekts einräumen, so würde ihm damit faktisch ein höheres Lebensrecht zugesprochen. Denn die im tierischen Verhalten instinktmäßig verankerte Bedenkenlosigkeit in der Anwendung zerstörerischer Überlebensmaßnahmen wäre ihnen im Unterschied zu den Menschen unbenommen: Für diskursive Bemühungen, sie von dergleichen abzubringen, wären sie nicht zugänglich. Die in einem solchen Gedankenexperiment durchgespielte  „Umwertung der Werte“ würde aus Diskursunfähigkeit nachträglich einen evolutionären Vorteil machen. Begründet werden könnte eine solche Umkehrung der traditionellen Rangordnung nur durch die Unterstellung einer sündhaften Verselbständigung, die nach Strafe verlangt. Und die bestünde in der Vernichtung. Die Kehrseite der zu Ende gedachten bedingungslosen Solidarität mit der nichtmenschlichen Natur oder auch nur der bedingungslosen Solidarität mit dem Tier ist Unmenschlichkeit. Die größten Fortschritte machte der Tierschutz in Deutschland unter der Herrschaft des Vegetariers Hitler. Die Ersetzung des Humanismus durch „Animalismus“ lässt keine Zustände erwarten, unter denen man leben möchte. Man könnte es nicht einmal.

Auch der besten Sache erweist man durch eine fehlerhafte Argumentation keinen Dienst. Noch weniger tut man es durch die sektiererisch-erregungsbereite Weise, in der sie von einem bestimmten Typus des „Tierrechtlers“ vertreten wird. Wenn die Emotion nicht schon gleich die Argumente ersetzt, bleibt dem Sektierer die Anknüpfung an unbegriffene oder halb verstandene religiöse Traditionen. Man schafft oder reanimiert auf diese Weise scheinbar zeitlose Autoritäten, um sich der Pflicht zu einer nachvollziehbaren diskursiven Begründung entziehen zu können.

Damit ist nichts gewonnen. Aber es gibt keinen Grund, religiöses oder mythisches Traditionsgut a priori pauschal abzuwerten. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur sind die Leistungen des mythischen und religiösen Denkens mitunter außerordentlich aufschlussreich. Man darf sich ihnen nur nicht in einer Haltung unkritischer Glaubensbereitschaft nähern.

Überraschenderweise kann man nämlich bei manchen religiösen Begründungen für ein absolutes Verletzungstabu von einem impliziten Humanismus, ja sogar von einem impliziten Anthropozentrismus sprechen. Am deutlichsten wird dies dort, wo man – wie nicht nur in der indischen Tradition, sondern auch etwa bei den Pythagoräern oder Empedokles, die gleichermaßen Fleischlosigkeit predigten – die Idee der Seelenwanderung zugrunde legt. Die hinduistische  Formel „tat twam asi“ (Das bist du), deren Befolgung angesichts der Leidensfähigkeit anderer Lebewesen den des Mitleidens Fähigen davor bewahrt, als Vermehrer des Leidens schuldig zu werden, setzt in dieser sprachlichen Form explizit voraus, dass die wandernde Seele eine menschliche ist und bleibt. Man fühlt sich mit menschlichen Gefühlen in nichtmenschliche Wesen ein.

Diese alles vermenschlichende Projektion hat die Gesellschaften, in denen sie Einfluss gewinnen konnte, trotz der humanen Chancen, die sie bietet, nicht viel menschlicher gemacht als andere. Aber auch wenn man die sozialen Tatsachen beiseite lässt, bleibt anzumerken, dass die dem Mythos verhaftete Betrachtungsweise etwas Wesentliches übersieht: Mensch und Tier unterscheiden sich grundsätzlich hinsichtlich ihres Gefühlslebens. Wer an so etwas wie Seelenwanderung mit allen ihren Implikationen glaubt, muss die Rolle des Bewusstseins für die Leidensfähigkeit vernachlässigen. Die Fähigkeit, Leid zu empfinden, wird durch das Vermögen eines Selbstbewusstseins, Zukunft zu antizipieren, zu hoffen und zu fürchten, gewissermaßen potenziert. Die Extremisten unter den Tierrechtlern ignorieren die Tatsache, dass die Natur jenseits aller ohnehin fragwürdigen Rangordnungen erhebliche Abstufungen der Empfindungsfähigkeit  kennt. Sie unterstellen noch bis zu den Einzellern für jedes Exemplar einer Spezies eine einzigartige Individualität, die alle jene Qualitäten umfasst.

Man sollte jedoch den sektiererischer Schwarmgeistern auf ihren ideologischen Steckenpferdchen nicht zuviel Aufmerksamkeit schenken. Denn grundsätzlich ist das in älteren asiatischen Religionen angelegte Naturverhältnis in seiner hohen zivilisatorischen Bedeutung anzuerkennen. Seine kritische Rezeption ermöglicht jenseits einer verfehlten Verrechtlichung einen veränderten Blick auf das Tier und eine Moral, die ihm gerecht werden könnte.

Die Religionen, die seit der Spätantike in Europa Fuß fassen konnten, haben – sieht man etwa vom heiligen Franziskus oder einer recht sympathischen Bemerkung bei Luther ab – in dieser Frage nicht allzu viel zu sagen. Die Aufklärungsphilosophie brachte hier keinen großen Fortschritt. Für Descartes war ein Tier keine res cogitans. Wenn man die Fähigkeit zu fühlen als eine Eigenschaft der res extensae betrachtete, war es nur folgerichtig, in Tieren nichts anderes als Maschinen zu sehen. Noch Kant sprach den „vernunftlosen Tieren“ keinen anderen Status als den von Dingen zu. Man kann diesen Denkern ihre heute befremdende Folgerichtigkeit nicht vorwerfen, zumal gerade Kant sich in der „Metaphysik der Sitten“ sehr entschieden gegen Tierquälerei ausgesprochen hat, wenn auch mit einer von Schopenhauer wegen ihres Anthropozentrismus scharf angegriffenen Begründung. Das kodifizierte Recht folgte jedenfalls bis ins 20. Jahrhundert hinein der cartesischen Sichtweise.

Die Rechtsauffassung hat sich jedoch auch in Deutschland inzwischen geändert. Tiere gelten nicht mehr als Sachen. Dadurch ergibt sich eine interessante Frage: Was wird durch Rechtsvorschriften, welche die menschliche Verfügungsgewalt über Tiere einschränken, eigentlich geschützt, wenn Tiere der Rechtsgemeinschaft nicht angehören? Wenn sie keine Sachen sind, lässt sich ihr Schutz nicht mehr von einem Eigentumsvorbehalt ableiten. Sie werden nicht deshalb geschützt, weil sie jemandem gehören, sondern, wie es scheint, „an sich“. Unmündige oder demente Menschen werden vom Gesetz geschützt, weil sie zumindest potenzielle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft sind. Ihre Vertragsfähigkeit liegt gewissermaßen in der Zukunft oder lag in der Vergangenheit. Im Falle angeborener geistiger Behinderung entscheidet die Zugehörigkeit zur Kategorie der ihrer überindividuellen Natur nach grundsätzlich Vertragsfähigen. Das alles ist bei Tieren nicht gegeben. Trotzdem wird so gut wie jeder es als einen großen Fortschritt betrachten, dass sie nicht mehr als Sachen gelten. Wenn sie aber weder durch einen Schöpfer noch von Natur mit angeborenen Rechten ausgestattet sind, muss man fragen: Wovon leiten sich Tierschutzbestimmungen ab? Was schützen sie wirklich?

Die Antwort klingt paradox: Tierschutzbestimmungen schützen menschliche Gefühle. Eine reine Vernunftethik muss zusammen mit einer auf Vernunft gegründeten Rechtsphilosophie vor dem Tier versagen. Wo die Vernunftethik versagt, stellt die schottische Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts den Begriff des „moral sense“ bereit, der den emotionalen Kern einer ethisch wertvollen Haltung benennt. Tierquälerei ist eine Beleidigung des „moral sense“. Wer Tiere quält, steht im Verdacht, am fremden Objekt zu erproben, was er den eigenen Artgenossen anzutun in der Lage ist. Der Schock, den die sinnfällige Aussicht auf derartige Zustände erzeugt, soll den Menschen erspart bleiben. Ebenso muss man Uneinsichtigen das Training unzweifelhaft bösartiger psychischer Dispositionen und zur Manifestation drängender destruktiver Fähigkeiten verwehren. Die menschliche Psyche soll also nicht nur  (1) vor schockgenerierten Traumata, sondern auch (2) vor den traumatisierenden Folgen des eigenen schuldhaften Handelns geschützt werden. Vermittels alles dessen wird letztlich (3) die Unversehrtheit des menschlichen Körpers geschützt.

Bis hierher ist die Funktion der moralischen und rechtsförmigen Konsequenzen aus einem unterstellten „moral sense“ rein negativ: Sie sollen eine unerwünschte Entwicklung menschlicher Seelenkräfte verhindern. Wichtiger ist aber die positive Funktion: Es soll diejenige Fähigkeit unterstützt und erhalten werden, welche als die bedeutsamste evolutionäre Errungenschaft der menschlichen Art angesehen werden kann: Empathie. Schon das indische „Tat twam asi“ schloss den Appell ein, sich über die artspezifischen Grenzen hinweg in alles Fühlende hineinzuversetzen. Die daraus abgeleiteten moralischen Forderungen mögen sich bisher nur in bescheidenem Maße ausgewirkt haben und sie werden vermutlich niemals vollständig realisierbar sein. Aber man darf mit der verbreiteteren Einsicht in ihre Bedeutung die Hoffnung verbinden, dass schon ihre begrenzte Befolgung ebenso menschliche Solidarität fördert, wie sie Arten vor dem Aussterben schützt und die in ihren Auswirkungen verheerende Achtlosigkeit im Umgang mit den Naturdingen zurückdrängt oder verhindert.

Die Reflexion auf die Grundlagen einer veränderten Haltung gegenüber dem Tier und allem Lebendigen hebt die solches anregenden religiösen Ideen im dreifachen Sinne auf: (1) Ihre kategorischen Geltungsansprüche werden durch Relativierung hinfällig bzw. stark eingeschränkt (im Sinne von tollere), (2) ihr Sinn wird bewahrt, weil in Grenzen anerkannt (in der Bedeutung von conservare), und (3) ihre Anerkennung erfolgt nach Maßgabe der durch Wechsel von der mythischen auf die diskursive Ebene bewirkten Horizonterweiterung (im Sinne von elevare). Die Absolutheit, mit der Werte und Normen vorreflexiv vertreten wurden, geht jedenfalls verloren. Das betrifft vor allem diejenigen religiös bestimmten Argumentationen, welche die Idee einer verpflichtenden universellen Empathie vertreten. Sie sind wenig tauglich, eine adäquate Praxis zu begründen, denn der oben geleistete Nachweis eines impliziten Anthropozentrismus dementiert jede transhumane Universalisierung und Verabsolutierung. Werte und Normen sind grundsätzlich relativ zu den Bedürfnissen einer Spezies, die wegen ihrer mangelnden Instinktausstattung nicht ohne ein normatives Korsett auskommt.

Auch aus einem anderen Grund kommt Religion als Quelle von Normen des Rechts und der Moral kaum in Frage. Für eine Auseinandersetzung, die ein konsensfähiges Ergebnis verfolgt, muss ein striktes Diesseitigkeitsprinzip zugrunde gelegt werden, solange die Vorstellung einer transzendenten Verankerung von Normensystemen nicht allgemein zu überzeugen vermag. Wer in der hier erörterten Frage irgend eine Form von Absolutheit glaubt aufrechterhalten zu müssen, setzt sich einem dreifachen Verdacht aus: (1) eine sentimentale Projektion als unumstößliche Tatsache zu hypostasieren, (2) die eigene moralische Überlegenheit durch maßlose Ansprüche demonstrieren zu wollen und (3) diese Demonstration mit der Bereitschaft zu einer Form von Tugendterror zu verbinden, die erkennen lässt, dass jede ernst zu nehmende Verbindung zu den menschlichen Angelegenheiten gekappt wurde. Jemand, den diese Diagnose träfe, wäre schon aus taktischen Gründen kein Bündnispartner im Kampf gegen menschliche Rohheit und Zerstörungswut. Die Verkennung der „exzentrischen“ (Plessner), in keine Umwelt ganz passenden Menschennatur ist kontraproduktiv.

Kant traf in der „Metaphysik der Sitten“ die Unterscheidung zwischen Rechtspflichten und Tugendpflichten. Möglicherweise ist sie hier wieder anwendbar. Der Verzicht auf tierische Nahrung und die Einhaltung eines sehr weitgehenden Verletzungsverbots könnte im Sinne Kants – unter Berücksichtigung zusätzlicher, ihm zu seiner Zeit noch unbekannter Aspekte – als tugendhaft gelten. Aus den angeführten Gründen ergibt sich jedoch, dass keine allgemeine rechtliche Verpflichtung bestehen kann, sich einem entsprechenden Tugenddiktat zu unterwerfen. Es ist zudem unwahrscheinlich, dass sich bei Verallgemeinerung der einschlägigen Gebote und Verbote das Prinzip der Widerspruchsfreiheit einhalten lässt. Wenn beispielsweise Tierpopulationen so wachsen, dass sie den Bestand anderer Arten als Fressfeinde oder durch Vernichtung ihrer pflanzlichen Nahrungsmittelgrundlage gefährden, oder wenn ganze Landstriche durch Verbiss zu veröden drohen, können einem Verletzungsverbot widerstreitende menschliche Eingriffe erforderlich werden.

Nicht allen Menschen wird man einen vollständigen Verzicht auf die Produktion und den Verzehr tierischer Nahrung plausibel machen können. Sinnvoller ist es ohnehin, sich an die Argumente zu halten, die jedem auf der Basis der eigenen Interessen einleuchten müssen. Die wiegen allerdings schwer: Die Ungeheuerlichkeiten, welche die Massentierhaltung unvermeidlich nach sich zieht, sind auf die Dauer für niemanden hinnehmbar, der nicht völlig abgestumpft ist. Nur dadurch, dass sie öffentlicher Wahrnehmung weitestgehend entzogen sind, sind derartige Quälereien noch möglich. Aber selbst wenn man davon absieht, dass das Fortbestehen dieser Zustände emotional unerträglich ist, bleiben noch weitere Argumente übrig, die dagegen sprechen, sie länger aufrecht zu erhalten. Sie ergeben sich aus der Unzuträglichkeit der veterinärmedizinischen Behandlung auf engem Raum gehaltener Tiere für die menschliche Gesundheit, etwa durch die Verabreichung von Antibiotika. Die dadurch entstehenden Resistenzen erweisen sich als zunehmend gefährlich. Die ohnehin unvermeidliche Minderwertigkeit der unter den genannten Bedingungen erzeugten Nahrung wird so noch gesteigert. Die exzessive Fleischproduktion ist außerdem eine der Ursachen des Welthungers. Weideflächen und Anbauareale für Futtermittel stehen nicht mehr als Ackerland zur Verfügung, so dass die Nahrung nicht mehr den direkteren Weg zum Verbraucher findet; ein Vielfaches an pflanzlicher Nahrung könnte auf diesen Flächen für die Menschen angebaut werden. Das bei der Fleischproduktion entstehende Methan hat zu allem Überfluss eine verheerende Wirkung auf das Weltklima.

Das alles ist seit langem bekannt. Das traditionelle Miteinander von Mensch und Tier kannte meist kein Tötungsverbot. Kaum jemand sah in früheren Zeiten in der Nutztierhaltung und der Produktion tierischer Nahrung eine moralische Provokation. Das änderte sich erst, als eine dem Kapitalverwertungsinteresse gehorchenden Maschinerie von infernalischer Destruktivität jene Funktionen übernahm. Dass diese Maschinerie gestoppt werden muss, wird mehr und mehr erkannt. Ein solches Ziel gerät aber in Gefahr, wenn es mit Mitteln erreicht werden soll, die auf eine moralische Überforderung hinauslaufen. Ohne Verzicht wird es nicht gehen. Aber die Frage nach den zumutbaren Dimensionen muss verhandelbar bleiben. Man sollte beim Nachdenken darüber die unauflöslichen Widersprüche des Lebens nicht verkennen.

Die vordringliche Aufgabe wird eher darin bestehen, zu einem menschlichen Maß zu finden, als auf der Erfüllung von Maximalforderungen zu bestehen. Das Ideal vollkommener Harmonie lässt sich von der Natur nicht ablesen. Wer dessen Erreichbarkeit behauptet, kann sich nicht auf Tatsachen berufen. Universelle Verbundenheit im Sinne eines „ozeanischen Gefühls“ ist ein emotionaler Ausnahmezustand. Er ist Sache von Individuen, nicht von Kollektiven. Etwas, das sich manchen zeigt, sich aber nicht aussprechen lässt, kann nicht Basis einer neuen Ordnung sein. Versuche, das Verlangen nach einer solchen Ordnung zu befriedigen, dürfen die Verbindung zu genuin menschlichen Interessen nicht verlieren.